Zurück zum Abschnitt:
Was sagen amerikanische Ökonomen zu
Steuersenkungen für Bestverdiener und Meinungsmacher?
Was bringt dagegen die Rossäpfeltheorie?
16)
Wer kümmert
sich um das Elend in der Dritten Welt?
In einer
Dokumentation der UNICEF heißt es:
Bildung: 110
Millionen Kinder gehen nicht zur Schule. Zwei Drittel
von ihnen sind Mädchen. Schlechte Ausbildung ist eines
der größten Hemmnisse für die wirtschaftliche
Entwicklung eines Landes – ein Teufelskreis der Armut.
Unicef schätzt, dass sechs Milliarden Dollar
ausreichen würden, allen Kindern der Welt den Besuch
einer Schule zu ermöglichen. Zum Vergleich: Die
Investitionskosten für Euro-Disneyland lagen bei 5,5
Milliarden Dollar.
Überleben:
Die Situation der Kinder spiegelt diese Ungleichheit der
Lebenschancen. Rund ein Drittel aller Kinder in den
Entwicklungsländern gelten als unterernährt.…[1037]
Lt.
FAO-Bericht sterben allein an den "Folgen von Hunger und
Unterernährung", jährlich 6 Millionen Kinder, wobei
offenbar die Todesfälle durch die sonstigen "Folgen der
Armut" noch nicht mitgerechnet sind (sh.
"UN-Welthungerbericht: Millionen Kinder sterben",
welt.de/dpa, 22.11.05,
und
hungerseite.com).
Auch das deutsche
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung bestätigte Mitte 2008 auf seiner
Webseite ähnliche, weiterhin dramatische Zahlen
(besucht 6.7.2008):
Jeden Tag sterben rund 25.000 Menschen an den Folgen von
Hunger, mehr als 13.000 davon sind Kinder… Ihre geistige
und körperliche Entwicklung bleibt zurück, normalerweise
harmlos verlaufende Krankheiten können tödlich sein.
Zum Skandal der weltweiten
Armut durch Anhäufung von Reichtum sagte der
Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela:
Armut ist nichts Natürliches. Sie wird von Menschen
gemacht und kann durch das Handeln von Menschen
überwunden und beendet werden. Die Überwindung der Armut
ist keine Geste der Barmherzigkeit. Sie ist ein Akt der
Gerechtigkeit. Sie ist die Gewährung eines grundlegenden
Menschenrechts: des Rechts auf Würde und ein
menschenwürdiges Leben. Solange die Armut andauert, gibt
es keine Freiheit.
(Aus seiner Rede anlässlich des Starts der Kampagne "Make
Poverty History", Trafalgar Square, 3. Februar 2005,
zitiert aus dem Text
"Im Interesse der Allgemeinheit", oxfam.de, 2006.)
Trotz ständiger Erinnerung an die fast 3000 Toten vom 11.
September 2001 im symbolträchtigen World Trade Center
haben die pseudo-religiösen Ausschlachter daraus nichts
gelernt. Am 11. September 2004 "verdichtete" (=
"compressed" sh.u.) George W. Bush die Dramatik der
Flugzeugeinschläge, den "Kampf des Guten gegen das Böse"
und den laufenden Wahlkampf der Republikaner gegen die
Demokraten in den einzigen (= "single" sh.u.) heroischen
Satz:
Three years ago, the struggle of good against evil was
compressed into a single morning.[1038]
Jedes
Einzelschicksal zählt, auch bei den unschuldigen Opfern
in den Entwicklungsländern. Es geht nicht nur um die
unglaubliche Zahl von 30.000 Kindern als tägliche
Opfer der neoliberalen globalen Umverteilung. Auch das
Elend vieler Erwachsener in der Dritten Welt lässt sich
kaum in Worte fassen.
Weltweit hungern 840 Millionen Menschen, und
jährlich sterben 36 Millionen Menschen direkt oder
indirekt an Hunger.
[1039] Dagegen könnte in den
Industrieländern bald die Fettleibigkeit zur häufigsten
Todesursache werden.[1040]
Das "Böse"
(evil) ist zwar immer der Feind des Guten, aber für die
Abwehr des Elends gibt es etwa
16
Milliarden Dollar US-Entwicklungshilfe[1041],
und solche Gelder fließen oft noch an
Kleptokraten-Regime
für Rüstungskäufe, privaten Luxus und ausländische
Nummernkonten.
Dagegen hat George W Bush nach Ende des Kalten Krieges
allein 368,2 Milliarden US-Dollar für seinen Militärhaushalt von 2004
eingeplant,[1042]
was aber bei weitem noch nicht reicht.[1043]Auch hiermit wird auf die übrigen Natostaaten
ein erheblicher Druck zur Aufrüstung und Asozialisierung
ausgeübt, nicht nur bei den übrigen
Umverteilungsmaßnahmen durch Steuerdumping. Das
Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI meldete für
das Jahr 2006 weltweite Rüstungsausgaben von umgerechnet
900 Milliarden Euro, davon fast 400 Milliarden durch die
USA (sh. "Rüstungsausgaben
steigen auf Rekordhöhe", netzeitung.de,
11.6.2007).
Trotz
Abwiegelei stellt Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD),
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, immerhin fest:
Wenn man sich ansieht, dass es weltweit eben 68
Milliarden US Dollar für Entwicklungszusammenarbeit
gibt, im Vergleich mittlerweile der Rüstungshaushalt
weltweit wieder auf 940 Milliarden US Dollar gestiegen
ist, dann ist es ein krasses Missverhältnis…
Der zweite Punkt ist: die internationale Gemeinschaft,
die Industrieländer, schützen immer noch ihre
Agrarmärkte mit 350 Milliarden US Dollar.[1044]
In bezug auf die "Agrarmärkte" sind die
jährlichen Agrarsubventionen gemeint, mit
denen die Industrieländer nicht nur ihre Agrarmärkte "schützen",
sondern zahllose Landwirte in den Entwicklungsländern
ruinieren.
So beträgt der deutsche Zuckerpreis
etwa das Dreifache des Weltmarktpreises. "Der
EU-Zuckerpreis ist etwa dreimal so hoch wie der
Weltmarktpreis" (sh. "Deutschland
versüßt Brüssels Streichpläne", Lausitzer
Rundschau Online, 19.7.05). Durch
Subventionen aus Steuergeldern kann man die
Überschussproduktion dennoch auf dem Weltmarkt auch an die
Entwicklungsländer verkaufen. Da die herabgesetzten
EU-Garantiepreise für Getreide in den osteuropäischen
Beitrittsländern anscheinend immer noch zur
Überproduktion reizen, sind auch die Getreideberge
wieder angewachsen (sh. "Getreideberge
gefährden EU-Agrarreform",
Handelsblatt.com, 1.8.05).
Bei dem geplanten weitgehenden Verzicht
auf die
Mengensubventionen würden nicht nur viele Landwirte in
Schwierigkeiten kommen, sondern auch viele agrarnahe
Arbeitsplätze in Europa verloren gehen, besonders in der
Zuckerindustrie. Aber mit den
ersparten Subventionen könnte man den betroffenen
Landwirten eine ordentliche Existenzsicherung bieten, und durch Senkung der Lohnzusatzkosten
ließen sich viele neue Arbeitsplätze schaffen. Wenn das nicht reicht
könnte man auch einen Teil der bisher vorenthaltenen
Entwicklungshilfen für diesen Zweck verwenden und so den
Entwicklungsländern mehr helfen als durch Finanzierung
von Mercedesflotten für Kleptokraten.
Parallel zu dieser zerstörerischen Marktregulierung,
insbesondere im Agrarbereich, wirkt die marktliberale
Deregulierung zugunsten von "Heuschrecken" und Geiern
auf den internationalen Finanzmärkten - auch zu Lasten
der Umverteilungsopfer in den Industrieländern. Dazu
schreibt Heiner Geißler.
Was ist
schiefgelaufen? Hundert Millionen von Arbeitslosigkeit
bedrohte Menschen in Europa und den USA und drei
Milliarden Arme, die zusammen jährlich ein geringeres
Einkommen haben, als die 400 reichsten Familien der Erde
an Vermögen besitzen, sind geeint in der Angst vor der
Zukunft, aber auch in der Wut, dem Abscheu und dem
tiefen Misstrauen gegenüber den politischen,
ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die, ähnlich
den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom
Feudalismus in die Industriegesellschaft, offenbar
unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung der
Ökonomie human zu gestalten.
Die Menschen werden zu Opfern einer
Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt
jenseits von Angebot und Nachfrage, die Spekulanten
begünstigt und langfristige Investoren behindert. Die
Staatsmänner der westlichen Welt lassen sich von den
multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander
ausspielen: Verantwortlich ist ein Meinungskartell von
Ökonomen und Publizisten, die meinen, die menschliche
Gesellschaft müsse funktionieren wie DaimlerChrysler,
und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, dass der
Markt geordnet werden muss, auch global Regeln
einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit
und der Produkte zerstört.
Die Menschen spüren die Folgen einer Wahnidee, die schon
in den Zwanzigerjahren die Weltwirtschaftskrise
verursachte, nämlich des Irrglaubens, die Gesetze und
Selbstheilungskräfte der Märkte würden alle Probleme von
selber lösen.
(Sh. Heiner
Geißler: "Was
bringt die Globalisierung? Ihre
negativen Auswirkungen sind unübersehbar: Demokratische
Entscheidungen werden durch die Diktatur der
Finanzmärkte ersetzt", Rheinischer Merkur,
31.5.2007.)
Wie zum Beweis für Geißlers "Meinungskartell von
Ökonomen und Publizisten", aber sicher nicht in dieser
Absicht, veröffentlicht das Blatt in der gleichen
Ausgabe Nr. 22/2007 einen Artikel des allzeit
medienpräsenten Thomas Straubhaar unter der Überschrift
"Globalisierung sorgt für Wohlstand". Straubhaar ist
Direktor der Hamburger Weltwirtschaftsinstituts und
Botschafter der neoliberalen Meinungsfabrik, deren
Irreführungsstrategie sich bereits zeigt in ihrem sozial
klingenden Namen"Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft". Typischerweise garniert Straubhaar
seine einseitige Auflistung der Globalisierungsvorteile
mit einigen harmlosen Einschränkungen, dass eben noch
nicht alles perfekt sei. Die eigentlichen Probleme der
ruinösen Agrar-Exportsubventionen, der parasitären
Diktatur von Finanzmärkten, der Blockade von
steuerlichen Regulierungen zur Zügelung ihrer der
Exzesse, all das spricht er nicht wirklich an. Statt
dessen bietet er nur langweilige Weichspülerei zugunsten
der Profiteure.
Den Hinweis auf die Diktatur der Finanzmärkte über den
produktiven Bereich findet man auch in einem Interview
von Heiner Geißler vom 22.5.2007 mit dem Handelsblatt:
Im Übrigen ist der
entscheidende Wohlstand in Europa nicht durch
ungezügelten Kapitalismus, sondern durch eine soziale
Marktwirtschaft entstanden, die möglichst viele am
wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben lässt. Ökonomie
und Humanismus sind vereinbar. Nur hat das Kapital den
Menschen zu dienen, nicht sie zu beherrschen.
Schuld an vielen Rationalisierungen ist doch heute
nicht, dass Firmen auf ihren Gütermärkten scheitern,
schuld ist der Druck der Kapitalmärkte. Kapitalertrag
überdeckt alle anderen Interessen.
(Sh. "Interview -
Heiner Geissler: 'Anarchie im
Wirtschaftssystem'", handelsblatt.com,
23.5.2007.) Die Handelsblatt-Interviewer hielten ihm
zur Klarstellung gleich ihren Lafontaine-Popanz vor, den
die Medien durch ständige Diffamierungen als Tabu-Figur
aufgebaut haben:
Sie
argumentieren mittlerweile wie Oskar Lafontaine …
Geißler: Er liegt
nicht in allem falsch. Wenn er zu denselben
Erkenntnissen kommt wie ich, soll es mir recht sein.
Das
"Meinungskartell von Ökonomen und Publizisten" ist also
stets präsent. Aber auch die neoliberalen Politiker
gehören dazu, die die finanzpolitische Umverteilung nach
oben zu verantworten haben. Geißler unterscheidet sich
von Lafontaine unter anderem dadurch, dass er dies nicht
genug anprangert und daher auch eher ATTAC als DIE LINKE
favorisiert. Immerhin sind aber Geißler und Blüm früher
als Parlamentsmitglieder energisch gegen die Senkung des
Spitzensteuersatzes aufgetreten (sh. hier
rossaepfel-theorie.de).
Die
bescheidene, aber großherzige Hilfe kleiner Gruppen wie
der Armenpriester[1045]
oder auch einzelner Farmer in Südamerika und anderswo
hilft zwar beim Glauben an Menschen, erreicht aber trotz
ihres oft übermenschlichem Einsatzes nur wenige.
Mit minimalem staatlich gelenkten Einsatz der
Industrieländer könnte man dagegen alle
erreichen. Man könnte das unverschuldete Elend
der Einzelnen sofort beenden, wenn die Wählermehrheit in
den Industrieländern ihre verschuldete
Gleichgültigkeit aufgäbe. Durch die Erhebung der
international nicht unüblichen Börsenumsatzsteuer oder
Tobin-Steuer[1046]
von 1% hätte man allein in Deutschland im Jahre 1998
nicht nur ausufernde die internationale Spekulationswut
und -gefahr etwas
eingedämmt, sondern noch ein zusätzliches Aufkommen von
etwa 12 Mrd. Euro erzielt,[1047]
ganz zu schweigen von den Schlupflöchern durch die
Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei
Wertzuwächsen im Privatvermögen und durch den
freundlichen Umgang der EU mit den parasitären
Steueroasen (sh. unten). Statt dessen trommelt man in
Kampagnen zur Steuersenkung für Bestverdiener nach dem
Motto des Axel-Springer-Verlages: "Seid nett
zueinander".[1048]
Mit den etwa
12 Mrd. Euro aus der Tobin-Steuer könnte man nicht nur
die Versprechungen einlösen, sondern sogar die zugesagte
Entwicklungshilfe weitgehend ersetzen. Dazu heißt es auf
einer Webseite zur Tagesschau vom 22.8.2002:
Bereits 1970 haben sich die Industrieländer in einer
Resolution der Vereinten Nationen verpflichtet, jährlich
0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes (BSP) für
Entwicklungshilfe aufzubringen. Bis 1975 wollten sie das
geschafft haben. In Rio 1992 wiederholten sie das
Versprechen. Bislang haben jedoch nur Dänemark,
Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Schweden die
0,7-Prozent-Schwelle überschritten. Deutschland wandte
im vergangenen Jahr 0,27 Prozent auf. Das sind 80 Dollar
pro Bundesbürger. Die USA waren im Jahr 2000 mit 9,6
Milliarden Dollar hinter Japan (13,1 Mrd. Dollar) zwar
das zweitgrößte Geberland, das entspricht aber nur einem
Anteil von 0,1 Prozent des BSP.[1049]
Im
Vergleich zur Bekämpfung der Terrorismusursachen
spielt die militärische Aufrüstung in den USA nach Ende
des Kalten Krieges eine herausragende Rolle. Dazu
schreibt Willi Leibfritz:[1050]
In den USA sind die Verteidigungsausgaben von 295 Mrd.
US-Dollar oder drei Prozent des BIP im Jahr 2000 auf
rund 410 Mrd. US-Dollar oder 3,8 Prozent des BIP im Jahr
2003 gestiegen. In den nächsten zwei Jahren dürften sie
weiter auf rund 4,5 Prozent des BIP steigen. Die
Militärausgaben sind damit (um Preissteigerungen
bereinigt) wieder ähnlich hoch wie in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre, also der Zeit des Kalten Krieges.
Die Friedensdividende für die Beendigung des Kalten
Krieges wäre damit durch den "Krieg gegen den
Terrorismus" wieder aufgezehrt. Dies gilt allerdings nur
für die Betrachtung der Absolutbeträge. Bezogen auf das
BIP betrugen die Militärausgaben zur Zeit des Kalten
Krieges knappe sechs Prozente. Bei dieser Betrachtung
wäre nach dem Anstieg von drei auf 4,5 Prozent die
Friedensdividende noch nicht vollständig, aber immerhin
zur Hälfte aufgezehrt.
Für die
militärische Bekämpfung der Symptome soll
also offenbar der 45fache dessen ausgegeben werden, was
man zur Beseitigung der Ursachen ausgibt – von
der biblischen Hartherzigkeit der wunderlichen Heiligen
gegenüber dem Elend in der Dritten Welt ganz zu
schweigen. Am fehlenden Geld kann es nicht liegen, denn
gleichzeitig betreibt man im Inland eine
Steuersenkung für Bestverdiener von
durchschnittlich 160 Milliarden Dollar im Jahr,
verteilt auf 10 Jahre.
Dazu eine
amerikanische Finanzredakteurin:
Mit geradezu beschwörerischem Blick und nur mühsam
beherrscht brachte sie hervor: "Mir ist egal, was das
für die amerikanische Wirtschaft bedeutet, und mir ist
auch egal, ob die Reichen das Meiste davon bekommen.
Selbst wenn es nur 10 $ die Woche sind: Ich will meine
Steuersenkung!"[1051]
Diese Aussage
ist kennzeichnend für die gesamte neoliberale
Mentalität. Es ist schwer zu verstehen, wie man sich
über seinen Überfluss freuen kann, wenn andere im Elend
leben. Aber wer sich sowieso nur über persönlichen
Profit oder Vorteile für die eigene Sippe "freut",
sollte sich zumindest fragen, inwieweit er sich noch als
Mensch im evangelikalen oder sonstigen humanitären Sinne
gelten lassen kann,
[1052] wenn ihm als Bestverdiener
die sozialen Mindeststandards oder die angeblichen
"moralischen Werte" der Republikaner praktisch nichts
wert sind. Das Volk wird vielleicht irgendwann einmal
diesen "menschlichen" Standard der Meinungsmacher
durchschauen. Aber der "aufrechte Gang"
[1053] verträgt sich schon jetzt nicht
mit reinem Profitdenken.
Diese
neoliberale Umkehrung der menschlichen
Entwicklungsgeschichte führt zu einem Primaten, der am
Ende wieder moralisch auf allen Vieren läuft.
Für
Deutschland wären die zugesagten Entwicklungsgelder 0,7%
vom Bruttosozialprodukt (BSP)[1054]
= 0,7 * 2.100 Mrd. Euro =14,7 Mrd. Euro.[1055]
Mit dem geschätzten Betrag von ca. 12 Mrd. Euro aus der
Tobin-Steuer = ca. 12/2100 = 0,57% des BSP und den
bereits gezahlten knapp 0,3% würde der erforderliche
Betrag zur Kompensation der Ausbeutung von
Drittweltländern sogar überschritten.
Es ist also
nicht so, "dass bei dem Übermasse des Reichtums die
bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug" wäre, "…dem
Übermasse der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu
steuern",
[1056] sondern der Reichtum ist
inzwischen so groß, dass man mit der Einführung der
Börsenumsatzsteuer sogar noch eine Verbesserung des
eigenen Wohlstandes durch Drosselung der ungezügelten
Spekulation erreichen könnte.
Brosamen und
Export von Landminenwerfern zur Verkrüppelung von
Kindern und Erwachsenen[1057]
helfen nicht weiter. Die eigennützige Unterstützung des
Rüstungswettlaufs bei den Ärmsten,[1058]
von Stellvertreterkriegen,[1059]
"modernen" Kriegsunternehmern,[1060]
teilweise mit zwangsrekrutierten Kindersoldaten[1061]
ohne andere "Berufs"-Perspektiven, und der Einsatz von
konzerneigenen Privatarmeen zum Abstecken von
Rohstoff-Claims[1062]
richtet mehr Schaden an, als die karge Entwicklungshilfe
ersetzen kann. Die ehemals kolonisierten und zur Zähmung
häufig zwangs-"christianisierten" "armen Heidenkinder"
werden von den gottlosen "Christen" weiterhin
ausgeplündert. Auch die Aufforderung von Kerstin Müller,
grüne Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, zum Kauf in
Dritte-Welt-Läden ist kein Ersatz für die Einhaltung der
internationalen Verpflichtungen. Das räumt sie
allerdings selbst ein.[1063]
Interessanter ist da schon folgende Meldung vom
19.1.2004 am Rande des Weltsozialforums in Bombay zur
internationalen Steuerhinterziehung und zur Politik der
Bundesregierung:
Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete, das
Attac-Mitglied Detlev von Larcher, forderte
internationale Mindeststeuern für Unternehmen und übte
scharfe Kritik an der SPD und der Bundesregierung.
Von Larcher, der zum Forum nach Bombay gereist ist,
sagte: "Ich würde mir hier mehr SPD-Abgeordnete
wünschen, damit sie sehen, was die neoliberale Politik
anrichtet, die sie im Bundestag auf Vorschlag unseres
hervorragenden Bundeskanzlers beschließen."
Von Larcher
forderte neben den Mindeststeuern für Unternehmen die
Austrocknung von Steueroasen, um dem "ruinösen
Steuerwettbewerb" ein Ende zu bereiten. "Auch das
Bankgeheimnis muss fallen." Banken und Steuerbehörden
müssten über Grenzen hinweg Daten austauschen können.
[1064]
Die Komplizenschaft zwischen den
Neoliberalen und Kleptokraten in aller Welt wird auch
deutlich daran, dass ihre hochgejubelten "christlichen",
"liberalen" und "sozialdemokratischen" EU-Politiker
selbst solche "Oasen" und Geldverstecke als
Steuerparasiten willkommen heißen, z.B. den
Subventions-"Tiger" Irland, aber auch Luxemburg und
Österreich mit seinen Hehlern in Liechtenstein, in der
Schweiz bis hin zu protzigen Emiraten im Persischen Golf
(sh. hier
Steuer-Parasitismus.htm).
Auch Großbritannien gehört zu den Schmarotzer-Förderern
mit seinen kriminellen Schützlingen auf den Cayman
Inseln und im Ärmelkanal. Auf diese parasitären
Kleinstaaten und Steuerhehler könnte die EU gut
verzichten, aber diese Staaten brauchen die EU zur
Schröpfung. Von solchen "Oasen" werden
insbesondere die Kleptokraten in der Dritten Welt
eingeladen, ihre Beute aus dem Volkseinkommen ihrer
ausgeplünderten Bevölkerung ins Ausland zu schleusen.
Dazu heißt es in einem Radio-Bericht bei dw-world.de:
Über die Höhe der klassischen
Entwicklungshilfe, also Geld, das die reichen Länder an
die Armen zahlen, wird auch in Doha gestritten werden.
Und doch ist das nur einer von vielen Punkten auf der
Tagesordnung, sagt Jens Martens. Er leitet das
Europabüro des Global Policy Forum, einer
Nicht-Regierungsorganisation, die das Geschehen
innerhalb der Vereinten Nationen analysiert. "Die
offizielle Entwicklungshilfe macht insgesamt rund 100
Milliarden Euro pro Jahr aus", sagt Martens. "Dem
gegenüber steht aber ein Vielfaches, man schätzt
zwischen 500 und 900 Milliarden Dollar, das durch
Kapitalflucht jedes Jahr aus den Ländern des Südens auf
Bankkonten in Steueroasen, nach Liechtenstein, der
Schweiz oder den Cayman Islands fließen."
Mit anderen Worten: Selbst wenn man die
Milliardenhilfen berücksichtigt, verlieren die
Entwicklungsländer unter dem Strich Geld. Martens
zufolgen schaffen nicht nur korrupte Eliten ihr Geld aus
dem Land. Auch international tätige Konzerne nutzen
Kapitalflucht, um Steuern zu sparen. Martens nennt
Beispiele: Mal werden Gabelstapler für einen Dollar ins
Ausland verkauft, mal Taschentücher für 1000 Dollar pro
Packung. "Mit solchen Tricks – und es gibt Tausende
Beispiele – sparen Unternehmen Steuern. Sie machen dort
Gewinne, wo die Steuern niedrig sind, und Verluste, wo
die Steuern hoch sind.
(Sh.
"Finanzkrise darf
Entwicklungshilfe nicht ausbremsen",
dw-world.de,
27.11.2008.)
Die vielen
kleinen und größeren privaten Spenden werden von den
Betroffenen in der Dritten Welt sicher als Zeichen des
guten Willens und als starke moralische Unterstützung
dankbar angenommen. Immerhin hat allein "Brot für die
Welt" im Jahr 2003 beachtliche 55,5 Millionen
Euro eingesammelt.[1065]
Das kann aber die vielen vorenthaltenen Milliarden
aus den Steuersenkungen für Bestverdiener nicht
ersetzen. Erfolgreiche Benefizveranstaltungen der
"Spaßgesellschaft" mit
Champagner, Kaviar und Selbstdarstellung könnten eher
als Beleidigung aufgefasst werden. Die
SchickiMicki-Charity ist nur erträglich, wenn ihre
Darsteller sich auch deutlich gegen die neoliberalen
Parteien abgrenzen, also gegen die eigentlichen Gründe
für die Umverteilung nach oben. In diesem Sinn
heiligen die Zwecke der Veranstalter nicht die Mittel.
Durch ein Ende der Umverteilung nach oben könnten Hunger
und Not auch ohne Champagner und Kaviar schnell beseitigt werden.
Ein besonders krasses Beispiel für die absurde
Kombination von treuherziger tätiger Sorge für die Armen
und skrupelloser Politik für die Reichen ist das Foto
von Mutter Teresa mit dem Republikaner Ronald Reagan
(mit schmucker Ehefrau), der die Umverteilung nach oben
auf die Spitze getrieben hat - auch zu Lasten der
Dritten Welt. Siehe dazu
Wikipedia: Mutter Teresa,
mit dem Foto: "Mutter
Teresa erhält von Ronald Reagan 1985 die
Freiheitsmedaille", ausgerechnet von
Reagan, zynischer geht es kaum! (Zur Umverteilung nach
oben durch Reagan sh. hier
rossaepfel-theorie.de.
Besonders
wichtig wäre eine politische und finanzielle Hilfe, die
sich möglichst direkt gegen die Korruption der
Regierenden in den Entwicklungsländern richtet. Die
tragen meist die Hauptschuld am Elend. Aber oft wird
auch die Mitschuld der Rohstoff- und Agrarlobby in den
Industrieländern sowie ihrer Regierungen verkannt.[1066]
Das geht bis hin zum maßgebenden Einfluss auf den
Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen und auf die
Fortführung des Kuba-Embargos durch reiche Exil-Kubaner
wie den Bacardi-Clan in Florida. Diese
"Freiheitskämpfer" wollen ihre kubanischen Latifundien
aus ihrer parasitären Batista-Zeit zurückhaben und beanspruchen
obendrein einen Ausgleich fiktiver Einkommensverluste in
ruinöser Höhe für die embargo-geschwächte kubanische
Volkswirtschaft,[1067]
statt selbst die Nachfahren ihrer ehemaligen
Zwangsarbeiter ("Sklaven") oder ausgebeuteten Tagelöhner
zu entschädigen. Man sieht, wie die Verhältnisse durch
kostspielige Propaganda zahlungskräftiger Meinungsmacher überall auf den Kopf gestellt
werden. In einer Demokratie kann man es ja naiverweise niemandem
verübeln, wenn er seine "Meinung" vertritt und dazu
beiträgt, dass sich überall die teuer bezahlten
Ideologien als neues Bewusstsein festsetzen.
Der Kalte
Krieg kam für solche Ideologen wie gerufen:
Der Kalte
Krieg lieferte westlichen Regierungen die perfekte
Entschuldigung, um die Dritte Welt im Namen der Freiheit
auszubeuten; ihre Wahlen zu manipulieren, ihre Politiker
zu bestechen, ihre Tyrannen zu ernennen und – mit jedem
Mittel der Überzeugung und Einmischung – das Auftauchen
junger Demokratien im Namen der Demokratie zu behindern.[1068]
Ließe man den
Zuckerbaronen aus der Sklavenhalterzeit freie Hand, dann
würden sie Havanna vielleicht nicht gleich in die
frühere Spielhölle der US-Mafia verwandeln, aber sie
würden sofort alle Medien, willfährige Politiker,
Journalisten und Sachverständige aufkaufen, diese ganz
groß als Kapazitäten und moralische Schwergewichte
herausbringen und mit einer riesigen Propagandamaschine,
mit Wahlkampfspenden, Zeitungskampagnen usw. den
bedrängten autokratischen und zunehmend repressiven[1069]
Castro-Staat "demokratisch" nach ihren Wünschen umformen
(natürlich mit dem entsprechenden Steuersystem).[1070]
Gleiches wurde und wird auch anderswo versucht, nicht
nur in Venezuela (sh. unten) und in den USA, sondern
weltweit und auch in Westeuropa. Insofern steht Cuba hier
nicht nur als Beispiel für eine imperialistische und
neoliberale "Entwicklungspolitik", sondern für den
Neoliberalismus überhaupt.
Die
bescheidenen sozialen Errungenschaften des
Castro-Regimes würden auf den relativen US-Standard
heruntergeschraubt. In den USA waren 68% der
Kleinverdiener nicht durchgehend krankenversichert,[1071]
während in Kuba die medizinische Grundversorgung frei
ist. Im sozialen Bereich erinnert das reichste Land der
Welt[1072]
zuweilen an ein Dritte-Welt-Land. Auf anderen Gebieten
könnte aber der Standard des embargo-gebeutelten Kuba
mit einer Kapitalismus-Invasion durch die USA in
absoluten Zahlen angehoben werden. Allerdings würde
die Armut damit wahrscheinlich trotzdem zunehmen, weil
sie von den Neureichen und den Benachteiligten natürlich
stets als etwas Relatives im Verhältnis
zueinander empfunden wird. Etliche Kubaner würden
mittlerweile wohl dieses "geringere Übel" dennoch in
Kauf nehmen und mögen auch nicht länger auf einen
deutlichen Aufschwung durch den Tourismus warten. Die
US-Mainstream-Medien und ihre Lieblings-Politiker
könnten sich endlich über ein "freies Kuba"
freuen und auch dort den Raubtierkapitalismus mit
der Umverteilung nach oben propagieren.
Auf ähnliche
Weise erfolgte zum Beispiel schon die Befreiung vom
"Kommunismus" und von demokratischer Verfügung über Land
und Rohstoffe in Chile durch Pinochet mit Hilfe der CIA,
im Kongo durch den Mord an Lumumba mit Hilfe der
belgischen Kolonialisten und ebenfalls der CIA,[1073]
im Iran durch den Sturz von Mossadegh und die Rückkehr
zum Geheimdienstregime der Marionette Reza Pahlevi auf
Drängen der Öllobby, auch mit CIA-Hilfe,[1074]
in Mittelamerika durch die CIA-geschulten
Todesschwadronen[1075]
und Contras[1076]
zur Zeit von Ronald Reagan und des Honduras-Botschafters
John Negroponte,[1077]
der im April 2004 von George W. Bush zum Botschafter im
Irak ernannt wurde.[1078]
Auf diese
Weise sollte also keine "Entwicklungshilfe" betrieben
werden. Sie sollte vorwiegend auf kleine Projekte
bezogen werden und durch projektspezifische Schulung von
einheimischen Kräften mit entsprechenden Anreizen
erfolgen, z.B. durch viele Anschubmaßnahmen der
deutschen
GTZ, sonst hilft sie vor allem den Exporteuren in
den Industrieländern, den Diktatoren und Kleptokraten in
der Dritten Welt[1079]
mit Mercedes-Flotten statt angemessener Kleinwagen oder
den gut bezahlten und gewiss auch unentbehrlichen internationalen Kontrolleuren, die die
Geldverteilung vor Ort überwachen sollen. Auf
keinen Fall darf das Geld direkt an die
Kleptokraten-Regime fließen, weil es sonst von diesen
vor allem privat verprasst oder für Rüstungsgüter
ausgegeben wird oder auf Nummernkonten in der Schweiz
und anderswo landet.
Mit der Subventionierung
von Großprojekten im Ausland erreicht man für die
Hungernden jedenfalls weniger als durch Streichen der
Subventionen von Agrarexporten in den Industrieländern,
denn diese Subventionen führen zur Verzerrung der Märkte
in der Dritten Welt und gefährden so die wirtschaftliche
Existenz der dortigen kleinen Agrarproduzenten.[1080]
Dies kann man auch im Nafta-Mitglied Mexiko studieren,
wo massenhaft kleine Agrarbetriebe durch hoch
subventionierte Agrarprodukte aus den USA ruiniert
werden. Solche Subventionen sind also in kurzen
Schritten komplett zu streichen. Die eingesparten Gelder
kann man verwenden, um die Verluste der kleinen
Landwirte in den Exportländern auf andere Weise
auszugleichen.
Dazu ein Auszug aus dem
Interview von Friedbert Meurer, Deutschlandfunk, mit
Hermann Scheer (SPD) im Hinblick auf die fatale Dominanz der WTO
gegenüber der UNCTAD und ihren humanitären Grundsätzen:[1081]
Meurer:
Die Welthandelsorganisation WTO ist einer Krise gerade
noch einmal entronnen, das war in Genf am Ende der
Beratungen zuletzt in den Fluren des Häufigeren zu
hören. Proteste hagelt es aber von den
Globalisierungskritikern, der Norden zieht den Süden
erneut über den Tisch, heißt es zum Beispiel bei Attac.
Die WTO entlarve sich als ein Instrument zur
Durchsetzung der Interessen mächtiger Industrieländer
und transnationaler Konzerne. Befürworter des
Kompromisses halten dagegen und fragen, wäre die Welt
denn etwa besser ohne die WTO …
Scheer:
Wir haben ja eine Welthandelsorganisation, nur über die
wird nicht geredet. Wir haben die UNCTAD und die UNCTAD
gibt es schon länger als die WTO und hier ging es zum
Beispiel und sollte es gehen, leider nicht mit richtigem
Nachdruck verfolgt, nicht mit dem Nachdruck wie bei der
WTO, faire Rohstoffpreise für die Länder der Dritten
Welt herauszubekommen …
Die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend ist
kein Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuchs. An ihre
Stelle sollte aber als erstes einmal ein schlechtes
Gewissen treten. Der französische Philosoph André
Glucksmann befasst sich damit in seinem Buch: Das Gute
und das Böse.[1082]
Zu diesem Buch gibt es eine ausführliche Rezension des
Philosophen Roger-Pol Droit in Le Monde vom 29.8.97.
Glucksmann gilt manchen als stromlinienförmiger
Mainstream-Philosoph.[1083]
Das kann hier nicht beurteilt werden. Jedenfalls ist er
in diesem Fall ein wichtiger Stichwortgeber. Roger-Pol
Droit nimmt den Gedanken in seiner Rezension eindrucksvoll und
in starker Verdichtung auf:
Das
Verbrechen der Gleichgültigkeit
… In einem
halben Jahrhundert hat Nord-West-Europa nicht nur seinen
Komfort mit Plüsch unterm Ledersofa gesichert. Es hat
auch ein prachtvolles System der Gleichgültigkeit und
eine Gefühllosigkeit ohne gleichen gegenüber dem Elend
in der Welt etabliert. Die einen können sich
zerfleischen, die anderen verhungern, unser Wohlbefinden
geht uns über alles, die Ruhe unserer Verdauung muss
gesichert sein …
Um
gleichgültig zu werden, musste Europa versuchen, die
Existenz des Bösen zu verneinen. Es hat sich gezwungen,
sich selbst zu vergessen, und den Gedächtnisschwund
sorgfältig gehütet …
André
Glucksmann … besteht grundsätzlich auf der
Notwendigkeit, dass wir die Existenz des Bösen in uns
erkennen, um es zu bekämpfen …
Die Barbaren,
das sind nicht die anderen, die von gegenüber, die von
woanders, die von früher. Das Einverständnis mit der
Gleichgültigkeit entsteht oder entsteht nicht in jedem
einzelnen, hier und jetzt …
Man kann
André Glucksmann einiges [an Flüchtigkeit] vorhalten,
aber man kann ihm nicht … seine Bemühung im Kampf gegen
das "Verbrechen der Gleichgültigkeit" bestreiten.
Diesen
Ausdruck hat Hermann Broch im Jahre 1945 geprägt, um die
Haltung der Deutschen unter dem Naziregime zu
charakterisieren. Es lohnt sich, dass man dabei
innehält. Wer gleichgültig bleibt, kann doch eigentlich
als jemand erscheinen, der nichts Schlechtes tut. Im
übrigen tut er ja nichts, hat nichts getan und jeder
könnte außerdem bezeugen, dass er keiner Fliege etwas
zuleide tun würde. Was kann man ihm also vorwerfen? Mit
welch üblem Prozess versucht man ihn zu belangen? Die
Opfer hatten ihre Henker, Folterer haben sie
verstümmelt, ausgehungert, vergewaltigt, ermordet. All
das ist wirklich schade. Es ist sogar schrecklich. Aber
er, was konnte er dafür? Er war nur schlecht informiert,
sozusagen überhaupt nicht, nein, er wusste nichts, die
Henker wurden außerdem verfolgt, ja, verurteilt, na ja
die meisten, jedenfalls die Verantwortlichen, ja, sie
sind verfolgt worden. Niemand hat sich über ihn
beschwert, es gibt auch keinen Grund, er hat ja nichts
getan, niemand kann ihm irgendeine Verantwortung
nachweisen …
Es sind immer
dieselben Redensarten ... Man muss im Gegenteil
folgendes klarstellen: Wer nichts tut, der tötet. Weil
er "tun lässt" und vergisst zu widersprechen, weil er in
sich selbst das zurückweist, was ihn zum Handeln bringen
könnte und müsste, weil er das Menschliche vereist. Das
ist es, was tötet. Die Gleichgültigkeit ist
offensichtlich das perfekte Verbrechen: Kein Beweis,
keine Verfolgung…
Zusatzfrage:
Ändert das die Situation, wenn man es einmal weiß?[1084]
Die Tat,
ob Mord, Parasitismus oder Gleichgültigkeit gegenüber
dem Elend, beginnt jedenfalls schon mit dem bequemen
Selbstbetrug. Manche rechtfertigen sich innerlich damit,
dass man als Egoist ruhig Egoist bleiben dürfe gegenüber
anderen Egoisten. Aber das entbindet nicht von der
Nothilfe. Außerdem sind unter den fremden Opfern nicht
nur Egoisten, und sei auch nur ein einziger unter ihnen,
der erhebliche persönliche Nachteile zugunsten von
notleidenden Fremden oder im Kampf gegen die
egoistischen Verursacher der Not in Kauf nehmen würde.
Auch kann man durch gute oder schlechte Beispiele die
Einstellung von vielen, ihr menschliches Niveau,
durchaus verbessern oder verschlechtern.
Dagegen kann
man mit der kritischen Rede des Verhaltensforschers
Konrad Lorenz vom "Sogenannten Bösen" zumindest jede
Gleichgültigkeit außerhalb der eigenen Brut oder Sippe
im Sinne der Horde oder Stammesgesellschaft
rechtfertigen (Gen-Erhalt), soweit man den Menschen als
Übergangsstadium vom Tier betrachtet. Obwohl es
Säugetiere schon vor 55 Millionen Jahre gab und sich der
Homo Erectus erst seit 2 Millionen Jahren zum Homo
Sapiens (hoffentlich zum Besseren) entwickelt,[1085]
fragt es sich doch, wer sich gern damit
rechtfertigen und seine Behandlung als Mensch wie auch
die "Menschenwürde"[1086]
in Zweifel ziehen möchte.[1087]
Dem Tier wird man in der heutigen Zeit nicht mehr den
Prozess machen.[1088]
Einen Mangel an freiem Willen haben die Sklavenschinder
kaum für sich in Anspruch genommen. Aber einem Menschen
könnte man den Prozess heute auch nicht machen, wenn man
ihn als Raubtier im Sinne des Raubtierkapitalismus
betrachtete:
Noch im 18. Jahrhundert wurde in England ein Schwein
gehenkt, das ein Kind getötet hatte. Bei der
Vollstreckung mussten alle Schweine der Umgebung aus
Gründen der Abschreckung anwesend sein.[1089]
Man könnte
auch mit etwas Esprit sagen: "Der Mensch kann wohl tun,
was er will, aber er kann nicht wollen, was er will."
Dieser viel zitierte Aphorismus von Arthur Schopenhauer
bleibt jedoch noch eher im unbestimmten metaphysischen
Bereich der Theorie vom freien Willen.[1090]
Interessanter scheint die Theorie vom "Bösen" als
"Bedingung der Möglichkeit" für das "Gute" bei Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) mit dessen
"Malitätsbonisierung"[1091]
und eigens "gefundener" Dualzahl "111" (dezimal
7) für die Dreifaltigkeit.
Ohne Schatten kann man sich in der Tat kaum das Licht
vorstellen, ohne Nichts (dual = 0) kein Sein (dual = 1),
ohne Yin kein Yang[1092]
usw. Aber das sogenannte "Böse" ist doch wohl eher zu
banal,[1093]
als dass man metaphysische Kategorien daran verschwenden
sollte. Hannah Arendt[1094]
schreibt über die Behandlung des Holokaust-Organisators
Adolf Eichmann durch das israelische Gericht sinngemäß:
Wie kann es
einen Angeklagten als urteils- und schuldfähige Person
behandeln, wenn dem die Grundlage aller Schuldfähigkeit,
nämlich Unrechtsbewusstsein, in so eklatantem Maße
fehlt?[1095]
Den
biedermännischen Karrieristen Adolf Eichmann beschreibt
Hannah Arendt wie folgt:
Außer einer
ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was
seinem Fortkommen dienlich sein könnte, hatte er
überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war
an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals
seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu
rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu
bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich
anstellte …[1096]
Genau dies
scheint die Wurzel für die "Banalität des Bösen".
Entweder hat
er es sich nicht vorgestellt, weil er es sich aus
Bequemlichkeit oder sonstigen "niedrigen Beweggründen"[1097]
nicht vorstellen wollte, oder wir kommen wieder
zum "sogenannten Bösen" der Verhaltensforschung von
Konrad Lorenz.
Um beide
Bankrotterklärungen der menschlichen Persönlichkeit zu
vermeiden, findet man für die skrupellose Umverteilung
nach oben stets die passende Ideologie, sei es die
Herrschaft von "Gottes Gnaden" oder die neoliberale
Voudou-Ökonomie[1098]
mit ihrer "Religion des Marktes" (sh. unten). Dass die
Grenzen manchmal fließend sein können, zeigt
eindrucksvoll der "Bericht für eine Akademie" von Franz
Kafka, worin der absurde Held aus seinem äffischen
Vorleben berichtet.[1099]
Anders
empfindet das Immanuel Kant:
Zwei Dinge
erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich
das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte
Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.[1100]
Sobald diese
Gedanken in das weltliche Gesetz und insbesondere auch
in die Kernpunkte des Steuerrechts übertragen sind, ist
das äffische Vorleben der Gemeinschaft beendet. Dann
muss sich nur noch der Einzelne auf das neue Niveau
einstellen, aber dem fällt das sicher leichter, wenn er
die (teilweise erzwungene) Gesetzestreue der übrigen zu
menschenwürdigen Gesetzen sieht.
Mit den
Folgen der Globalisierung befassen sich vor allem die
Globalisierungskritiker wie Attac, die gerade keine
"Globalisierungsgegner" sind ("Nennen sie uns bloß nicht
Globalisierungsgegner"),[1101]
denn sonst würden sie sich ähnlich verhalten wie die
beschränkten Globalisierer oder Globalisierer mit
beschränkter Haftung, die nur zu ihrem eigenen Vorteil
globalisieren wollen.
Der
Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz verlangte am
Montag [dem 19.1.04 auf dem Weltsozialforum in Bombay],
Firmen müssten für alle ihre Handlungen voll zur
Verantwortung gezogen werden können. Entsprechende
Regelungen seien machbar, betonte der frühere Berater
der US-Regierung und Weltbank-Vizepräsident beim Treffen
der mehr als 100.000 Globalisierungskritiker in der
indischen Finanzmetropole.[1102]
Ehe man also
auf die zynische Ausrede von der "natürlicher Auslese"
verfällt, sollte man doch einmal einen anhaltenden Blick
über den Tellerrand werfen, dorthin, wo das Elend am
größten ist, denn die Auslese ist nicht "natürlich",
sondern produziert, beginnend mit der früheren
Alphabetisierungsblockade[1103]
durch die Kolonialisten über andauernde Ausbeutung
dieser Länder bis zu heutigen Subventionen von
Agrarexporten dorthin, Unterstützung für die dortigen
Kleptokraten, die hiesigen Absahner usw.
Zum Globalisierungs-Begriff und zu dem
Manifest von WASG und Linkspartei für das
Linksbündnis schreibt die Berliner
Tageszeitung:
In dem Manifest, das vor allem von
Lafontaine stammt, aber von führenden Vertretern beider
Parteien unterzeichnet ist, ist vom
"Raubtierkapitalismus" und einer "barbarischen
Weltwirtschaftsordnung" die Rede. Die Verwendung des
Begriffs "Kapitalismus" statt "Globalisierung" umreiße
schon das ganze Programm, sagte Lafontaine bei der
Vorstellung.
(Sh. "Linke manifestiert sich",
taz.de, 3.6.2006,
und
Manifest, mit
Sicherungskopie
hier).
In der Tat wurde die unmittelbare Gewaltherrschaft von
Menschen über Menschen abgelöst durch die Herrschaft
über die Demokratien mit Hilfe des globalen Kapitals.
Mit diesem "Raubtierkapital" wird zwar überall das
Volkseinkommen abschöpft, aber es wird gerade von vielen
seiner größten Besitzer durch globale Steuerflucht der
gesellschaftlichen Verpflichtung entzogen. Diese
parasitäre Kapitalmacht führt auch dazu, dass sich die
kapitalhörigen neoliberalen Regierungen und Profiteure
nicht auf eine internationale Kontrolle und Besteuerung
der überbordenden Spekulations- und
Fluchtkapitalbewegungen einigen können.
Auch für die
Dritte Welt gilt Heraklits Diktum: "Der Vater aller
Dinge ist der Kampf".
Gegen die Kleptokraten hilft kein gutes Zureden.
Friedliche Demonstranten wurden einfach niedergemetzelt.
Furchtlose, entschiedene und manchmal auch etwas
blauäugige Revolutionäre wie Che Guevara[1105]
wurden und werden von den Finanziers der
Todesschwadronen weiterhin als bloße Gewaltmenschen
diskreditiert. Den Profiteuren ist es lieber, wenn sich
die Gegner der Unterdrückung – wie Oscar Romero –
einfach ermorden lassen.[1106]
Der Erfolg solcher Revolutionen ist immer wieder
gescheitert an jenen Finanziers im Verbund mit der Macht
des großen Bruders. Die Medien sind weitgehend in der
Hand des Kapitals, wie man am aktuellen Beispiel
Venezuela studieren kann.[1107]
Dort hat ein großer Teil des Volkes allerdings seine
demokratische Aufgabe gegen die gescheiterten
Putschisten von rechts erkannt, und die Regierung hat
als späte und etwas hilflose Gegenmaßnahme lange
Selbstdarstellungen
von Chavez im Fernsehen verordnet. Man kann nur hoffen,
dass hier im Laufe der Zeit auch das Internet etwas
weiter hilft.
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Was sagen amerikanische Ökonomen zu
Steuersenkungen für Bestverdiener und Meinungsmacher?
Was bringt dagegen die Rossäpfeltheorie?