Datei zuletzt ergänzt am 10.3.2007.


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Was sagen amerikanische Ökonomen zu Steuersenkungen für Bestverdiener und Meinungsmacher? Was bringt dagegen die Rossäpfeltheorie?







EU-Lohn- und Sozialdumping

(Siehe hier auch die Exkurse: Mindestlohn und Hartz-IV.)





1) Einleitung
2) Entsenderichtlinie
3) Dienstleistungsrichtlinie
4) Erneute Angriffe auf Dumping-Kontrollen




1) Einleitung


Die Überschrift zu den beiden Untertiteln "Entsenderichtlinie" und "Dienstleistungsrichtlinie" lautete zunächst "EU-Freizügigkeit". Sie wurde geändert, weil die betreffenden Vorschriften des EU-Rechts hier nur im Hinblick auf das Lohndumping betrachtet werden sollen und können.
 


Exkurs zum Dumping-Begriff

Zum heftig umstrittenen Begriff des "Dumping" schreiben Verfasser der einflussreichen Wikipedia mit Stand vom 26.2.06:
 

Dumping (von englisch to dump, abladen) bezeichnet den Verkauf von Waren im Ausland unter Herstellungskosten bzw. unter dem auf dem Heimatmarkt des Exporteurs geltenden Preis.
 

Mit solchen Definitions-Einschränkungen werden  entscheidende Aspekte oft bewusst ausgeblendet. In dem Wikipedia-Artikel ist allerdings auch von Steuer-, Staats- und Sozialdumping die Rede.

Zunächst geht es nicht nur um der "Verkauf von Waren", sondern "von Gütern", zu denen auch Dienstleistungen gehören.

Außerdem geht es bei der gegenwärtigen politischen Diskussion vor allem auch um Dumpingsteuern als Anreiz zur Verlagerung von Unternehmensgewinnen und von Arbeitsplätzen, vor allem dann, wenn der Dumper zugleich EU-Subventionen empfängt oder gerade durch die Dumpingsteuersätze und sonstiges Steuerdumping seine Steuereinnahmen erhöht. Dies ist besonders bei kleineren Ländern der Fall, in denen die Zusatzeinnahmen durch die Gewinnverschiebung vom Ausland höher sind als die Verluste bei den vorherigen inländischen Steuereinnahmen. Solches EU-Steuerdumping - finanziert aus den Steuerzahlungen der künftigen Arbeitslosen in Westeuropa - wirkt bei der gegenwärtigen neoliberalen Verteilungspolitik letztendlich nur als ein Instrument der Umverteilung nach oben zugunsten der Profiteure in Ost- und vor allem Westeuropa. Dies gilt auch, wenn der gesamte "Kuchen" damit vielleicht etwas größer wird (sh. rossaepfel-theorie.de), solange man die Kosten für die dadurch bedingte zusätzliche Arbeitslosigkeit nicht berücksichtigt.

Selbst wenn man als "Dumping" nur das Angebot unter Einstandspreisen oder Selbstkosten versteht, gehört das subventionierte Steuerdumping noch dazu. Wenn jedoch bei entstehenden Steueroasen "die Zusatzeinnahmen durch die Gewinnverschiebung vom Ausland höher sind als die Verluste bei den vorherigen inländischen Steuereinnahmen" (sh. oben), dann wäre dieser Parasitismus nicht ohne weiteres durch die wettbewerbsrechtliche Dumping-Definition mit dem Selbstkostenbegriff gedeckt.

Die Neoliberalen versuchen allenthalben, den Begriff des Steuerdumpings in ihrem Sinne umzudefinieren. Danach wäre von Steuerdumping erst zu sprechen, wenn ein Staat die Ausländer niedriger besteuert als seine eigenen Staatsangehörigen. Dies ist jedoch der Begriff des "unzulässigen Steuerdumpings" nach EU-Recht. Tatsächlich verbietet das EU-Recht nur diese Form des Steuerdumpings, weil die EU-Meinungsmacher mit den Dumping-Profiteuren viel zu lasch umgehen und aus eigennützigen Motiven auf eine Einigung mit ihnen warten (sh. rossaepfel-theorie.de)
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Dagegen ist das EU-subventionierte Dumping beim Agrarexport mit Exportpreisen weit unter den EU-Preisen nach EU-Recht nicht unzulässig, also nach der obigen fragwürdigen Definition kein "Dumping". Es ist aber unzulässig nach den Grundsätzen der Welthandelsorganisation (WTO). Deshalb wird die EU jetzt zu einer Korrektur gezwungen, denn die Wikipedia verweist in ihrem Artikel zum Dumping mit Recht auf das WTO-Verbot, dass ein Erzeugnisses unter seinem üblichen Preis im Ausfuhrland exportiert werden darf, also
 

wenn der Preis dieses Erzeugnisses ...
niedriger ist als der vergleichbare Preis, der im normalen Handelsverkehr für ein gleichartiges Erzeugnis gefordert wird, das zum Verbrauch in dem exportierenden Lande bestimmt ist...
 

Sh. "Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen", (= General Agreement on Tariffs and Trade - GATT) Artikel VI - Antidumping- und Ausgleichszölle.

Mit jenem Agrardumping werden den Entwicklungsländern viel größere Schäden zugefügt, als man durch die dürftige Entwicklungshilfe ausgleicht. Der Evangelische Entwicklungsdienst - EED schreibt dazu mit viel Rücksicht auf die existenzbedrohte deutsche Zuckerlobby in seiner detaillierten Einführung: "Die Reform der EU-Zuckermarktordnung", März 2004, S. 17:
 

Eigentlich wettbewerbsfähige Produzenten in anderen Ländern können trotz ihrer Kostenvorteile mit dem subventionierten Zucker nicht mehr mithalten und geben auf.
 

Der EED unterstreicht dort auch den Druck auf die Weltmarktpreise durch die reichen brasilianischen Zuckerbarone (wahrscheinlich mit Hochtechnologie und Sklavenentlohnung). Aber dieser Einfluss schmälert nicht den Schaden durch das Export-Dumping mit  EU-Subventionen:

 

Für Produzenten in armen Ländern ist der Effekt der gleiche, ob sie durch Dumping oder durch superwettbewerbsfähige Konkurrenten verdrängt werden.
 

(Sh. dazu auch die Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung zur "Reform der EU-Zuckermarktordnung - AKP-Staaten und Bundesrepublik zwischen Interessen und Interessenpolitik ",  Berlin 13.4.200, und "Feine Süße sorgt für Alptraum: Billigzucker hat Folgen", Peiner Wirtschaftsspiegel, Ausgabe 5; 2004, S. 5-9)
 

Ähnliches Dumping mit katastrophalen Folgen für die Ärmsten in der Dritten Welt gibt es auch durch die USA und andere auf dem Weltmarkt für Baumwolle usw. Dagegen ist der Schutz heimischer Märkte hier und in den Entwicklungsländern durch Importzölle nicht einfach mit neoliberalem Gestus abzulehnen.

Auch die begriffsgeschichtliche Erklärung "von englisch to dump, abladen" ist bei der Wikipedia viel zu kurz gegriffen. Das New Shorter Oxford English Dictionary schreibt zu dem betreffenden Begriff "to dump":
 

v.t. Throw down in a lump; deposit unceremoniously; tip out (rubbish etc.); drop, esp. with a bump. Orig.
Put (goods) on the market in large quantities and at low prices; spec. send (goods unsaleable at high price in the home market) to a foreign market for sale at a lower price.
 

Das heißt also insbesondere: "(Güter) auf den Markt bringen in großen Mengen und zu niedrigen Preisen". Diese Definition bezieht sich auch den massenhaften Einsatz von Arbeitkräften zu Niedriglöhnen, mit denen die zuvor geltenden Löhne gedrückt werden, womöglich unter das hiesige Existenzminimum, während entsandte Arbeitskräfte mit den Niedriglöhnen nach Rückkehr in ihre Heimatländer bei niedrigen Wohnungskosten noch einigermaßen leben können.

 

Die nachfolgenden Ausführungen zur Entsenderichtlinie und zur Dienstleistungsrichtlinie sind hier nicht als allgemeine Einführung zu diesen Richtlinien gedacht, zumal dieses Thema zu weit ab liegt von den Hauptthemen dieser Webseite: „Steuersenkung für Bestverdiener“ und „Arbeitsplatzvernichtung durch Umverteilung nach oben“. Eine kurze Einführung zur Europäischen Dienstleistungsrichtlinie findet man z.B. bei Wikipedia.

Die Ausführungen hier dienen nur als Begründung zur problematischen Abwägung der Vor- und Nachteile von gesetzlichen Mindestlöhnen, wie sie hier in den Dateien Lohndumping.htm und Linksbuendnis.htm angesprochen werden. Dies spielt auch eine Rolle für die primäre Verteilung des Volkseinkommens. Hier werden jedoch lediglich einige Gesichtspunkte erläutert, die in etlichen anderen Darstellungen für diesen Zusammenhang bei weitem nicht ausreichend berücksichtigt sind. Insoweit wird den Klagen von Günter Verheugen über die Ignoranz der meisten Meinungsmacher Rechnung getragen (sh. unten die ausführlichen Auszüge aus seinem Interview mit dem Deutschlandradio), auch wenn er hier in der rossaepfel-theorie.de ansonsten sehr kritisch betrachtet wird.

Die Freizügigkeit von Arbeitskräften, Dienstleistungen und Kapitalverkehr sowie das freie Niederlassungsrecht gehörten schon zu den Grundlagen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem EWG-Gründungsvertrag von 1957 („Vertrag von Rom“, sh. „Gründungsverträge“, über „Europa – Verträge und Recht“). Diese Grundsätze wurden übernommen in die Artikel 39 bis 60 des EU-Vertrages von 1997  (Vertrag von Amsterdam, konsolidierte Fassung) und in die aktuelle Version des EG-Vertrages gemäß Amtsblatt C 325 vom 24.12.2002, konsolidierte Fassung. Sie sind auch beim Kapitalverkehr wegen des Steuerdumpings mit erheblichen Problemen verbunden.

Nach dem EU-Beitritt der zehn neuen Mitgliedsländer zum 1.5.2004 werden verstärkt deutsche Arbeitplätze dorthin verlagert. Ein Grund sind die niedrigen Löhne und Sozialstandards. Sie müssen aber wegen der gewünschten EU-Erweiterung als Verlagerungsmotiv in Kauf genommen werden, zumal sie - im Gegensatz zu den Dumpingsteuern - nicht eigens für Dumpingzwecke geschaffen oder beibehalten wurden. Unerwähnt bleibt meist der Verlagerungsanreiz durch diese Dumping-Steuern, die auch bei kapitalintensiver Produktion oft den Ausschlag geben und aus den Steuern der künftigen Arbeitslosen in Westeuropa subventioniert werden.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EU-Mitglieder wurde im Prinzip auf 2 + 3 Jahre ab 1.5.2004 eingeschränkt. Diese Beschränkung kann „bei ernsthaften Arbeitsmarktstörungen“ auf weitere 2 Jahre ausgedehnt werden (sh. „Das Übergangsregime zur Arbeitnehmerfreizügigkeit“, wko.at). Sie gilt auch für bestimmte Arbeitnehmer, die von Unternehmen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern als deren Beschäftigte in das angrenzende Deutschland und Österreich "entsandt" werden. Zu dieser Gruppe gehören sowohl in Deutschland als auch in Österreich unter anderem Arbeitnehmer im Baugewerbe. Nur für das Baugewerbe wurde in Deutschland bisher die EU-Entsenderichtlinie zur Verhinderung von Dumping bei Löhnen, Sozialstandards usw. für den Fall der freien Entsendung umgesetzt (sh. unten).

Es handelt sich aber bei der vorübergehenden Beschränkung der Freizügigkeit bei Entsendungen in Bezug auf die mittel- und osteuropäischen EU-Länder nicht um eine Beschränkung nach der Entsenderichtlinie, sondern lediglich um die weitere Anwendung nationaler oder staatsvertraglicher Zuzugsbeschränkungen bis maximal zum 1.5.2011. Diese Beschränkungen sind für diese Länder in jeweils gesonderten Vertragsanhängen geregelt. Zum Beispiel gilt für Polen der Anhang XII (Datei aa00039-re03.de03.doc) der „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte“ (zu erreichen auf der EU-Webseite als „The Treaty of Accession“ unter http://europa.eu.int/comm/enlargement/negotiations/treaty_of_accession_2003/ durch Klick auf eines der beiden Kästchen „de“, wobei man über das zweiten Kästchen durch Entpacken des kompletten Vertrages in ein vorher angelegtes Unterverzeichnis leicht mit der Suchfunktion nach Passagen suchen kann). Gemäß diesen Beschränkungen
 

können Deutschland und Österreich, solange sie gemäß den vorstehend festgelegten Übergangsbestimmungen nationale Maßnahmen oder Maßnahmen aufgrund von bilateralen Vereinbarungen über die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer anwenden, nach Unterrichtung der Kommission von Artikel 49 Absatz 1 des EG-Vertrags abweichen, um im Bereich der Erbringung von Dienstleistungen durch in Polen niedergelassene Unternehmen die zeitweilige grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern einzuschränken, deren Recht, in Deutschland oder Österreich eine Arbeit aufzunehmen, nationalen Maßnahmen unterliegt.
 

Da also zum Beispiel das Fleischereigewerbe nicht zum Geltungsbereich der Beschränkungsliste für Entsendungen nach Deutschland gehört, hätte man hier das grenzüberschreitende Lohn- und Sozialdumping in Deutschland durch vertragsgemäße Umsetzung der Entsenderichtlinie verhindern können.  Stattdessen wurde die Entsenderichtlinie nur für das Baugewerbe umgesetzt, für das vorläufig ohnehin die obigen Zuzugsbeschränkungen gelten. Es gibt jedoch jetzt schon übergangsweise vereinbarte jeweils befristete Zuzugskontingente nach bilateralen  "Werkvertragsabkommen" auch für das Baugewerbe zugunsten von "Werkvertragsarbeitnehmern", für die die Festsetzung von Mindestlöhnen und sonstigen Standards bereits heute erfolgt (sh. "Zur Übertragbarkeit des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die deutsche Fleischbranche", IAT-Report 2005-03, S. 3). Diese Standards sind aber in den einzelnen Werkvertragsabkommen geregelt.

Dagegen sind außer dem „Baugewerbe, einschließlich verwandte Wirtschaftszweige“ für Deutschland nur noch „die Reinigung von Gebäuden, Inventar und Verkehrsmitteln“ und die „Tätigkeiten von Innendekorateuren“ in der vorläufigen Beschränkungsliste aufgeführt (sh. Anhang XII  der „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte", a.a.O.).

Die Befristung auf maximal 7 Jahre bedeutet, dass z.B. im Reinigungsgewerbe spätestens nach 2011 schon das grenzüberschreitende Lohn- und Sozialdumping möglich wäre, wenn der Anwendungsbereich des Entsendegesetzes nicht rechtzeitig über das Baugewerbe hinaus erweitert würde.

Da die Arbeitsverhältnisse (besonders in Ostdeutschland) vielfach nicht tariflich geregelt sind, ist nach Ablauf der Frist durchaus mit noch weiterem Lohndruck durch den Zuzug von Arbeitnehmern aus den angrenzenden Ländern zu rechnen. Dies bedeutet tendenziell einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit über die ohnehin sehr hohe Quote hinaus.

Hinsichtlich der Tarifverträge gibt es in Ostdeutschland oft eine "Orientierung am Branchentarifvertrag", die im Durchschnitt dem Branchentarifvertrag entspricht (sh. IAB-Betriebspanel Mecklenburg-Vorpommern, Berlin 2004, S. 120). Rechnet man dies als "tarifvertragliche Bindung" hinzu, dann geht die Tariflosigkeit in Ostdeutschland nicht so weit, wie es nach vielen Darstellungen erscheint, denn damit waren im Jahre 2003 in Ostdeutschland 42% der Betriebe und 22% der Beschäftigten ohne tarifvertragliche Bindung; in Westdeutschland waren es 31% der Betriebe und 14% der Beschäftigten (ebd.). Aber der Branchentarif liegt in Ostdeutschland oft ohnehin unter dem Minimum zur Existenzsicherung (z.B. in Sachsen die untersten tariflichen Brutto-Stundenlöhne für Fleischereiverkäufer: 4,61 €,  Floristen: 4,30 €, Friseure: 3,06 €  usw; sh. "unterste Tarife" bei boeckler.de).

Da man also von Niedriglöhnen in Deutschland kaum noch sein Existenzminimum abdecken kann,  behalten die ausländischen Arbeitnehmer auch jetzt schon gern ihren Wohnsitz in ihren Heimatländern und kommen lediglich zu kurzfristigen Dienstleistungen einmal schnell in das angrenzende Deutschland oder Österreich. Die Überlassung solcher Arbeitskräfte im gewerblichen Bereich wird von Ausländern oder Deutschen organisiert, die als Dienstleistungsunternehmer mit Sitz im Ausland fungieren. Sie organisieren für ihre Arbeitnehmer Billigunterkünfte in Deutschland, lassen die Zeitarbeiter bei Bedarf auch als scheinbar Selbständige auftreten und können so schon jetzt die westdeutschen Effektivlöhne mit Dumping-Angeboten drücken bzw. deutsche Arbeitskräfte verdrängen. Da die ausländischen Arbeitskräfte mit Stundenlöhnen von wenigen Euros in Deutschland mehr verdienen als daheim, können sie von den Organisatoren durch Abschöpfung von Differenzen zu den weiterberechneten „Unternehmens“-Stundensätzen bestens geschröpft werden. Die Kritik richtet sich jedoch gegen die deutschen Politiker, die dies durch Untätigkeit bei der Gesetzgebung und Abzocker-Liberalismus auf EU-Ebene zulassen, denn der Konkurrenzdruck am Markt treibt die Marktteilnehmer dazu, alle gesetzlich gebotenen Möglichkeiten auszuschöpfen.

Im herstellenden und verarbeitenden Gewerbe lohnt sich der Arbeitsplatzexport für die Unternehmen oft allein schon wegen der mehr oder weniger legalen Möglichkeit zur Gewinn- und Steuerverlagerung ins Ausland. Damit wird Deutschland immer mehr vom lohnintensiven Dienstleistungssektor abhängig.

Hier greift nun die heiß umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie, indem sie die Okkupation umgewandelter deutscher Arbeitsplätze im Dienstleistungsgewerbe regelt.

Die Möglichkeiten der Dienstleistungsrichtlinie sind allerdings durch die Entsenderichtlinie beschränkt. Soweit die Entsenderichtlinie in nationales Recht umgesetzt wurde, kann nur die Tarnung der Zeitarbeiter als Selbständige zum Lohn- und Sozialdumping verhelfen.




2) Entsenderichtlinie
 


Für selbständige Unternehmer aus allen EU-Ländern besteht Niederlassungsfreiheit in Deutschland und in allen anderen EU-Ländern. Die Freizügigkeit gilt auch für alle entsandten Arbeitnehmer - mit Ausnahme der vorübergehenden Beschränkungen für Arbeitnehmer aus mittel- und osteuropäischen Ländern (sh. oben). Zur Verhinderung von Lohn- und Sozialdumping gibt es jedoch  für "entsandte" Arbeitnehmer aus allen EU-Ländern  Regulierungen ihrer Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch die Entsenderichtlinie („Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen“). Lt. Artikel 7 dieser Entsenderichtlinie sollte die Regelungen bis zum 16. Dezember 1999 in nationales Recht umgesetzt werden. Dies ist in Deutschland lediglich für das Baugewerbe und Baunebengewerbe geschehen (sh. unten). Diese arg zurechtgestutzte Umsetzung wurde jedoch von den EU-Behörden als ausreichend akzeptiert. Der EU-Abgeordnete Ulrich Stockmann (SPD) veröffentlichte dazu als „Europa News aktuell Nr. 10/2005“ auf seiner Webseite folgenden Text:
 

In Deutschland wird momentan über eine Ausweitung des bestehenden Entsendegesetzes debattiert. Ausgangspunkt der aktuellen Brisanz des Themas, ist die Situation auf den Schlachthöfen. Dort werden Stundenlöhne zwischen zwei und fünf Euro gezahlt. Arbeitszeiten von zehn bis vierzehn Stunden am Tag gelten als normal. Gewerkschaftsangaben zufolge kommt rund ein Drittel der 67.000 Arbeitnehmer der Fleisch verarbeitenden Unternehmen aus osteuropäischen Ländern.

Auf EU-Ebene existiert seit dem 16. Dezember 1996 eine Entsenderichtlinie, die bis zum 16. Dezember 1999 von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden musste.
 

Ebenda verweist er auf eine „weitere Datei zum Thema“ unter http://www.ulrich-stockmann.de/upload/10-2005_entsenderichtlinie.pdf, worin es heißt:
 

Am 25.07.2003 legte die Kommission einen Bericht über den Stand der Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedsstaaten vor. Dem Bericht zufolge erfüllt das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz die Anforderungen der europäischen Richtlinie.
 

Ein juristisches Vorgehen des Reinigungsgewerbes gegen diese Minimal-Umsetzung  der Richtlinie scheint zwecklos. In Artikel 3 der Entsenderichtlinie heißt es:
 

Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass …die … Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern … Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,
- durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder
- durch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind: …
a) Höchstarbeitszeiten …b) bezahlter Mindestjahresurlaub, c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze …

Die Mitgliedsstaaten können … nach Konsultation der Sozialpartner beschließen, Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstabe c) [das heißt die Mindestlöhne] … nicht anzuwenden, wenn die Dauer der Entsendung einem Monat nicht übersteigt.“
 

Danach scheint es zunächst so, als müsste der deutsche Gesetzgeber zumindest für das Reinigungsgewerbe die allgemeinverbindlichen tarifvertraglichen "Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren", da sie dort bereits "festgelegt sind" (sh. unten). Aber diese Umsetzungsverpflichtung für entsandte Arbeitnehmer gilt offenbar nur für die "im Anhang genannten Tätigkeiten" des Baugewerbes. Man sieht also, dass die Verwinkelung solcher Vorschriften auch zur berechtigten Skepsis gegenüber der EU-Verfassung beitragen konnte, deren wirtschaftsliberale Vorschriften dem gleichen Geist entstammen. Man sieht aber auch, dass durch Mindestlöhne in Form von "Rechts- oder Verwaltungsvorschriften" die Beschränkung auf das Baugewerbe durchbrochen werden könnte. Die Ausweitung des Geltungsbereichs über das Baugewerbe hinaus kann aber auch durch ein nationales Gesetz ohne Einführung von Mindestlöhnen erfolgen, denn in Artikel 3 Abs. 10 heißt es:
 

Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten ...
Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die in Tarifverträgen oder Schiedssprüchen nach Absatz 8 festgelegt sind und andere als im Anhang genannte Tätigkeiten betreffen, vorzuschreiben.
 

Das Problem bei den Tarifverträgen liegt jedoch allein schon darin, dass sich die Tarifparteien in wichtigen Bereichen nicht darauf einigen können (sh. unten).

Zur Dauer der Entsendung
ist keine weitere Obergrenze festgelegt, sondern es heißt in Artikel 2 Abs. 1 lediglich:
 

Im Sinne dieser Richtlinie gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.
 

Was ein „Arbeitnehmer“ ist, soll sich nach der Definition des Gastlandes richten (ebd. Art. 2 Abs. 2). Besonders beliebt ist die Umwandlung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen in sozialversicherungsfreie Scheinselbständigkeit. Zur Unterscheidung gilt in Deutschland die Definition des Bundesarbeitsgerichts (zur finden dort mit „Dokumentensuche“ und Eingabe von „5 AZB 19/01):
 

Arbeitnehmer ist, wer aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.
 

Wenn also ein entsandter ausländischer Arbeitnehmer am Bau zu Dumpinglöhnen, d.h. unter Tarif beschäftigt werden soll, lässt man ihn versuchsweise als Scheinselbständigen auftreten, so z.B. den Fliesenleger. Aber recht hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerd Andres jedenfalls in seiner Bundestagsrede vom 13.5.05 mit der Feststellung:
 

Zur Selbstständigkeit gehört nach europäischer Rechtsprechung so etwas wie eine Mindestform von Niederlassung. Es reicht nicht, wenn sich 32 polnische Menschen – ich habe nichts gegen diese Menschen – in einer Vorstadtwohnung anmelden und alle als Fliesenleger arbeiten wollen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks und deutsche Behörden dürfen diesen Menschen nicht einfach ungeprüft die notwendigen Bescheinigungen und Zulassungen erteilen. Das kann nicht sein. Dagegen werden wir vorgehen, damit Sie das wissen.
 

In anderen Branchen, wie z.B. den Fleischereigewerbe, kann der entsandte Ausländer trotz der Dumpinglöhne jetzt schon als normaler Arbeitnehmer des entsendenden Unternehmens präsentiert werden, weil es hierzu für Deutschland keine vorübergehenden bilateralen Zuzugsbeschränkungen vereinbart wurden und die vorgesehenen Regelungen durch das deutsche Entsendegesetz nur für das Baugewerbe übernommen wurden.

In dieser Hinsicht ist Gerald Weiß, CDU-MdB und CDA-Vorsitzender, bei seiner Argumentation zu den Zuständen auf dem Fleischereimarkt nicht zuzustimmen (sh. das Interview von Gerald Weiß vom 12.4.05 im Deutschlandfunk, abgedruckt bei zeit.de), wenn er sagt:
 

Es gibt ganz vielfältige Ursachen dieses Lohn-Dumpings. Entsprechend differenziert muss die Strategie sein, dieses Lohn-Dumping anzugehen. Auf dem Fleischereimarkt, den Sie erwähnen, ist es weniger ein Problem der abhängig Beschäftigten, die zu unzureichenden Arbeitsbedingungen hier beschäftigt werden, eingeschleust werden, sondern das ist einfach der illegale Missbrauch der Dienstleistungsfreiheit, die hier im Grunde umgangen wird. Hier werden Scheinselbständige ins Land geschleust, die in Wahrheit Arbeitnehmer sind, die zu völlig unzumutbaren Arbeitsbedingungen hier deutschen Arbeitnehmern konkurrieren und beschäftigt werden. Also das ist im Grunde ein ganz anderes Problem und kann folglich mit dem Lösungsansatz, den Sie erwähnt haben, dem Entsendegesetz, natürlich allein nicht angegangen werden,
 

denn die aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmer in der Fleischverarbeitung müssen sich gar nicht als Scheinselbständige tarnen, weil die Partei von Gerald Weiß, also die CDU, eine Ausweitung des Entsendegesetzes auf alle Tarifbereiche bisher verhindert hat und die SPD zunächst von dieser Maximalforderung (Ausweitung auf "alle“) nicht abweichen wollte (sh. zum Stand der Diskussion über die Ausweitung die hier weiter unten zitierte BT-Drs. 15/5810).

Dagegen spricht DER SPIEGEL mit Bezug auf das Fleischereigewerbe nicht von Scheinselbständigen. Vielmehr handelt es sich einfach nur um Dienstleistungen ausländischer Unternehmen mit ihren eigenen Arbeitnehmern:
 

Betriebe aus den neuen Mitgliedstaaten dürfen deshalb deutschen Unternehmen ihre Dienstleistungen anbieten - und zwar zu den Arbeitsbedingungen ihrer Länder. Das Prüfrecht, ob es sich tatsächlich um Dienstleistungen oder aber um illegale Arbeitnehmerüberlassung handelt, haben nicht mehr deutsche Stellen, sondern die Heimatländer.
 

(Sh. Arbeitsmarkt: „Der Osten kommt“, DER SPIEGEL, 7/2005, 14.2.2005.) Und in der darauffolgenden Ausgabe schreibt er:
 

Denn es gilt Dienstleistungsfreiheit, wenn auch mit Einschränkungen. Über Werkverträge mit Subunternehmen aus Polen, Tschechien oder Litauen können deutsche Firmen ganze Bereiche an billige Fremdarbeiter vergeben - und sie machen reichlich Gebrauch davon, vor allem in der Fleischindustrie, weil dort der Preisdruck enorm ist.
Allein in der Branche sind in den vergangenen Monaten 26 000 Jobs zugunsten von Arbeitern aus Warschau und anderswo weggefallen. Gegen die Dumpinglöhne von drei bis fünf Euro haben deutsche Arbeitnehmer keine Chance.
 

(Sh. „Arbeitsmarkt: Wie Billiglöhner aus Polen deutsche Arbeitkräfte verdrängen“, DER SPIEGEL, 8/2005, 21.2.2005; als Teil eines Spiegel-Dossiers von 10 Artikeln mit starker Wirklichkeitsnähe. Ganz nebenbei verwendet DER SPIEGEL hier wieder einmal, völlig arglos, das Wort „Fremdarbeiter“, wegen dessen Verwendung er sich aufs heftigste an der Diffamierungskampagne der bestverdienenden Meinungsmacher gegen Lafontaine beteiligt hat - im Kampf um die Bewahrung der Steuergeschenke für bestverdienende Redakteure.) Für Scheinselbständigkeit besteht also ohnehin kein Anlass, weil das deutsche Entsendegesetz nur für das Bauhaupt- und Baunebengewerbe gilt und weil seine Erweiterung auf andere Tarifbereiche von der CDU-Bundesratsmehrheit abgelehnt wurde (sh. unten).

Eine Scheinselbständigkeit ist dagegen zum Beispiel bei Fliesenlegern auch dann „erforderlich“, wenn ein Unternehmer mit Sitz in Mittel- und Osteuropa seine Fliesenleger als Arbeitnehmer des Baunebengewerbes nach Deutschland entsenden  will. Bei Einsatz zu Dumpinglöhnen wäre diese Scheinkonstruktion auch für Entsendeunternehmer aus anderen EU-Ländern erforderlich, weil auch für sie - als weiterer Dumping-Schutz - am Bau die Entsenderichtlinie gilt.

Auch Günter Verheugen setzte bei seiner Antwort auf die Frage nach den Schlachthöfen voraus, dass es sich hier  nicht um Scheinselbständige handelt, sondern dass die ausländischen Beschäftigten dort ohnehin jetzt schon als normale Arbeitnehmer ausländischer Firmen auftreten:
 

Also wenn es jetzt ein Problem gibt bei Schlachthöfen, ist es kein großes Problem, diese Lücke zu schließen, einfach durch Rechtsverordnung kann das geschehen oder durch Allgemeingültigkeitserklärung eines Tarifvertrages.
 

(Sh. sein Interview mit dem Deutschlandradio Kultur, 2.4.2005.)

Die fingierte Selbständigkeit ist auch bei deutschen Arbeitnehmern verbreitet – mit noch größeren Konsequenzen als bei den ausländischen Zeitarbeitern, denn für Deutsche können die Folgen fatal sein.  Mit dieser Selbständigkeits-Fiktion sollen die jeweils mehr als 20% Sozialbeiträge „eingespart“ werden, die sowohl die Unternehmer als auch ihre Arbeitnehmer zu zahlen haben. Verbreitet ist diese Praxis z.B. in Transportgewerbe, aber auch bei vielen anderen Formen des sogenannten „Outsourcing“, das gerade auch deshalb beliebt ist. Für die Ex-„Arbeitnehmer“ bedeutet dies, dass sie selbst auch noch die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung übernehmen müssen bzw. sich und ihre Familie privat versichern und bei dem Druck auf ihre Preise vielleicht irgendwann ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können. Das "deregulierende"  „Outsourcing“ wird dann für sie ein Vehikel zum "Outsourcing" aus dem kompletten Sozialsystem.

Bei Arbeitnehmer-Entsendungen für mehr als einen Monat ist die Anwendung von Mindestlöhnen also auch nach der Richtlinie zwingend erforderlich, wenn in dem Gastland überhaupt Mindestlöhne „festgelegt“ sind. Gegen eine solche Festlegung waren stets die Arbeitgeber. Auch die Gewerkschaften beharrten auf ihren  Tariflöhnen, die sich aber nur teilweise durchsetzen lassen.

Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Kontrolle der Einhaltung von tariflichen Mindeststandards  für  entsandte Arbeitnehmer durch die deutschen Behörden.   Laut Richtlinie, Artikel 4 Abs. 2, sollen die ausländischen Behörden mit den Behörden im Gastland zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit besteht insbesondere darin,
 

begründete Anfragen dieser Behörden zu beantworten, die das länderübergreifende Zurverfügungstellen von Arbeitnehmern, einschließlich offenkundiger Verstöße oder Fälle von Verdacht auf unzulässige länderübergreifende Tätigkeiten, betreffen.
 

Im Hinblick auf das bereits praktizierte Steuerdumping und auf die hohe Arbeitslosigkeit in den Entsendeländern wird man von solcher Zusammenarbeit nicht allzu viel erwarten können, zumal die entsendenden Firmen in ihren Ländern sicher auch etliche Tarnungen der wahren Sachverhalte erfinden oder weiter praktizieren werden.

Typisch ist der Vorstoß aus osteuropäischen Beitrittsländern Ende 2006 gegen die geforderte Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten für Entsendefirmen und gegen die Bereithaltung von Lohn- und Sozialversicherungsunterlagen auf deutschen Baustellen durch entsandte Arbeitnehmer (sh. unten). Für diesen Angriff wurde die Hintertür offen gehalten, weil man bei der Verabschiedung der Richtlinie offenbar keine akzeptable Definition der Kontrollmöglichkeiten durchsetzen konnte oder wollte. Auch in die Dienstleistungsrichtlinie wurden solche Trojaner eingebau. Sie wurden dann von der großen neoliberalen Koalition im EU-Parlament geflissentlich durchgewinkt - trotz energischer Warnungen durch die dortige Linke  (sh. unten).

Selbst die deutschen Behörden werden sich bei abnehmender Personaldecke vor solch zähflüssiger Informationsbeschaffung scheuen. Den meisten Meinungsmachern in Deutschland, Brüssel und Straßburg gehen die Probleme ohnehin nicht sehr nahe, denn ihre üppigen Einkünfte sind bestens gesichert. Die Politiker und viele Meinungsmacher sind außerdem unter dem Regime der Unternehmensverbände von Zuckerbrot und Peitsche, denn diese Verbände werden nicht von den geschädigten Kleinunternehmern dominiert, sondern von den großen Profiteuren.

In Artikel 7 der Entsenderichtlinie vom 16.12.96 heißt es zu ihrer Umsetzung:
 

Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens ab dem 16. Dezember 1999 nachzukommen. Sie setzen die Kommission hiervon unverzüglich in Kenntnis.
 

Wegen des dringlichen Regelungsbedarfs und der jahrelangen Auseinandersetzungen bis zur Einigung über die Entsenderichtlinie hatte der deutsche Gesetzgeber jedoch bereits vor ihrer Verabschiedung ein „Entsendegesetz“ erlassen: Siehe BT-Drs. 13/2418 v. 22.9.95 und „Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen“, (Arbeitnehmer-Entsendegesetz – AEntG) vom 26. Februar 1996, (BGBl. I S. 227)“ mit (farblich unterschiedenen!) Hinweisen auf Änderungsgesetze, sidiblume.de. In Verbindung damit „hat Deutschland mehrere Änderungen seiner Rechtsvorschriften erlassen und vorgeschlagen, die nach Feststellung des Gerichtshofes [EuGH] geeignet sind, verschiedene Unstimmigkeiten zwischen dem deutschen Recht und der Richtlinie zu beseitigen“ (lt. EuGH-Pressemitteilung vom 5.7.05).

Die Bindung für die Entsendung von ausländischen Arbeitnehmern an deutsche tarifvertragliche Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen ist also durch das Entsendegesetz auf den Baubereich beschränkt (sh. oben). Bei Verabschiedung des Entsendegesetzes im Jahre 1996 spielte u.a. der Zustrom von entsandten portugiesischen Bauarbeitern eine Rolle seit der zweiten EU-Süderweiterung von 1986, aber auch britische Entsendefirmen konnten die Löhne erheblich drücken wegen weitgehender Steuerfinanzierung ihrer Sozialversicherung. Dazu Handwerks-Generalsekretär Hans-Eberhard Schleyer im Juni 1996 (sh. "Wir brauchen das Entsendegesetz", welt.de, 10.6.1996):
 

Auch das Baugewerbe müsse und werde sich an den verschärften internationalen Wettbewerb anpassen. Doch sei das Entsendegesetz "wegen der kurzfristig entstandenen dramatischen Situation im Baugewerbe zu rechtfertigen". Mittlerweile arbeiteten mehr als 200 000 EU-Ausländer auf deutschen Baustellen. Der Konkurrenzdruck durch die Subunternehmen aus Ländern wie Portugal oder England sei mörderisch wegen der Niedriglöhne, die sie ihren Beschäftigten zahlten. Ein deutscher Facharbeiter koste rund 42 DM die Stunde; wobei die Lohnzusatzkosten mit fast der Hälfte zu Buche schlügen, rechnete Schleyer vor: "Die Arbeit eines Portugiesen kostet etwa zehn Mark - inklusive Personalzusatzkosten." Und die eines Dänen oder Engländers sei ebenfalls billiger, weil dort der Staat die Sozialversicherung über Steuern finanziert und damit die Lohnzusatzkosten wesentlich niedriger seien.
 

Auch hier kann das besagte "Anpassen" an den "internationalen Wettbewerb" offensichtlich nur durch Steuerfinanzierung der Sozialversicherungsbeiträge erfolgen, denn die Entsenderichtlinie erlaubt keinen Schutz gegen das Lohn- und Preisdumping über viel niedrigere oder gar nicht gezahlte ausländische Sozialversicherungsbeiträge (sh. Wolfgang Jungen: Bauwirtschaft und EU-Ostintegration in der deutsch-polnischen Grenzregion, Universität Viadrina und DGB-Technologieberatung, September 2003,  S. 52; sh. auch z.B. die EU-Verfahrensandrohung gegen Belgien: "Neun Vertragsverletzungsverfahren im Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs...", Brüssel, 3.7.1998, ip/98/614). Durch die Dienstleistungsrichtlinie werden sogar noch die deutschen Kontrollmöglichkeiten ausländischer Scheinselbständigkeit und sonstiger Scheinkonstruktionen erheblich eingeschränkt oder praktisch unmöglich gemacht (sh. unten).

Obwohl die Entsendungen im Jahre 1996 schon als  "mörderischer" "Konkurrenzdruck" empfunden wurden, waren sie nur ein Tröpfeln im Vergleich zum bevorstehenden Zustrom in allen Dienstleistungsbereichen aus den viel größeren Niedriglohnländern unmittelbar vor der Haustür.

Die rotgrüne Bundesregierung wollte in einem Gesetzentwurf  vom 22.6.05 (BT-Drs. 15/5810) den Anwendungsbereich des Entsendegesetzes auf alle Tarifbereiche ausdehnen. In ihrem Entwurf (ebd.) hieß es:
 

Im Ausland ansässige Arbeitgeber sind – mit Ausnahme des Baubereichs – bislang nicht verpflichtet, ihren nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern die hier geltenden tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen zu gewähren. Dies benachteiligt hierher entsandte Arbeitnehmer und gefährdet durch unfairen Wettbewerb insbesondere die hier ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen sowie die bei ihnen bestehenden  Arbeitsplätze.
 

Diese Erweiterung auf alle Tarifbereiche wurde jedoch von der CDU-Mehrheit im Bundesrat abgelehnt mit der vorrangigen Begründung (ebd., Anlage 2):
 

Jede Erweiterung des Anwendungsbereichs des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes stellt eine Notmaßnahme dar, die einen weiten Teil des niedrigproduktiven Arbeitsbereichs verschließt. Sie bedeutet de facto die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns durch die Hintertür, mit der Gefahr einer weiteren Steigerung der ohnehin schon zu hohen Arbeitskosten in Deutschland und daraus resultierend einer weiteren Verdrängung von Arbeitsplätzen gerade des Niedriglohnsektors ins Ausland. Dies würde die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland verfestigen, statt sie zu bekämpfen...
 

Dagegen argumentierte die Bundesregierung unter anderem (ebd., Anlage 3):
 

Die Bundesregierung kann sich der Stellungnahme des Bundesrates nicht anschließen.

Sie begrüßt, dass auch der Bundesrat hinsichtlich bestimmter hochsensibler Branchen eine befristete Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes in Erwägung zieht. Jedoch hält die Bundesregierung die im Regierungsentwurf gewählte Konzeption einer umfassenden Branchenerweiterung für erforderlich. Jede Beschränkung auf einen im Gesetz festgeschriebenen Branchenkatalog würde demgegenüber immer nur eine Momentaufnahme darstellen. Bei einer nur punktuellen Erweiterung des Gesetzes auf einige wenige Branchen wäre der Gesetzgeber permanent gefordert, den Branchenkatalog je nach Entwicklung in den einzelnen Branchen nachzubessern und zu aktualisieren...
 

An diesem Punkt ist die Debatte zunächst einmal stehen geblieben, denn kurz darauf war man schon mit der vorgezogenen Bundestagswahl beschäftigt. Aber auch mit der tarifvertraglichen Bindung wäre man ohnehin nicht viel weiter gekommen, weil sich viele Arbeitgeber die Mitgliedschaft in ihren Tarifverbänden gar nicht leisten können oder wollen. Für diese Firmen gelten die Tarifverträge nur, wenn sie für allgemeinverbindlich erklärt wurden (sh. „Allgemeinverbindlicherklärung – Entwicklung des Entsendegesetzes“, dgb.de - Stand 19.2.06).

Auch die Einführung (abgestufter) gesetzlicher Mindestlöhne könnte eine Lohnspirale nach unten bis auf das Niveau der Mindestlöhne nicht verhindern, wenn durch den Zustrom ausländischer Billigarbeitskräfte und den dadurch entstehenden Konkurrenzdruck auf beide Tarifpartner den deutschen Arbeitnehmern die Entlassung drohte. Darüber hinaus werden Mindestlöhne jetzt schon auf vielfache Weise unterlaufen, z.B. durch kaum kontrollierbare Mehrarbeit über die bezahlten Arbeitszeiten hinaus. Hierfür müssten die Strafen so verschärft werden, dass die Möglichkeit der Aufdeckung wirklich abschreckend wirkt.




3) Dienstleistungsrichtlinie


Gemäß Entsenderichtlinie sollen für entsandte Arbeitnehmer bestimmte Vorschriften des Gastlandes gelten. Dagegen sollen für sie nach der Dienstleistungsrichtlinie ganz allgemein die Vorschriften des Herkunftslandes gelten, auch für die Löhne. Lediglich die bereits geregelten Bereiche der Entsenderichtlinie sollten vom Herkunftslandprinzip ausgenommen werden. Dementsprechend heißt es auf S. 16 des Kommissionsvorschlages für die Dienstleistungsrichtlinie:
 

Arbeitnehmerentsendung. Die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Falle der Entsendung von Arbeitnehmern sind in Richtlinie 96/71/EG19 geregelt; die die Anwendung bestimmter Vorschriften des Landes vorsieht, in das der Arbeitnehmer entsandt wird. Um die Vereinbarkeit mit dieser Richtlinie sicherzustellen, sieht Artikel 17 des Richtlinienvorschlags eine Ausnahme vom Herkunftslandprinzip für diese Regelungen vor.
 

Zitiert aus dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Europäschen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt (von der Kommission vorgelegt) … Brüssel, 25.2.2004, KOM(2004)2 endgültig/2." Das Herkunftslandprinzip war dort in Artikel 16 geregelt (sh. ebd. S. 60).

Dieser Richtlinienvorschlag stammt noch von der EU-Kommission Prodi unter Leitung des damaligen Kommissionspräsidenten Romano Prodi, die zum 1.5.2004 abgelöst wurde durch die neue Kommission unter Leitung von José Manuel Barroso. Zuständiger Kommissar für die Richtlinie in der Prodi-Kommission war mit seinem Bereich Binnenmarkt, Steuern und Zollunion der Niederländer Frits Bolkestein, zugleich führendes Mitglied der niederländischen wirtschaftsliberalen Partei VVD, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der deutschen FDP hat. Nach ihm wird der obige Richtlinienvorschlag auch als „Bolkestein-Richtlinie“ bezeichnet. Allerdings gab es auch starke Berührungspunkte mit dem Ressort „Erweiterung“, das von dem Kommissar Günter Verheugen (SPD; bis 1982 FDP) geleitet wurde.

Am 14.2.06 gab es im EU-Parlament noch einmal "eine ausführliche und kontroverse Debatte über die EU-Dienstleistungsrichtlinie". Die Diskussionsbeiträge findet man im Sitzungsbericht ab Seite 46, den man finden kann unter http://www.europarl.eu.int/registre/durch "erweiterte Suche" mit dem Datum 14.2.06 und Anklicken der Sprache "de". Einen kurzen Hinweis auf die Brisanz gibt der Diskussionsbeitrag von Sahra Wagenknecht auf Seite 64. Sie hat die Problematik jedoch ausführlicher beschrieben in ihrem Artikel "Fauler Kompromiss", jungewelt.de, 11.2.06.

Nach heftigen Großdemonstrationen gegen diesen neoliberalen Entwurf
und nach dem vorläufigen Scheitern der EU-Verfassung an diesem neoliberalen Geist bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wurde ein zurechtfrisierter Richtlinienentwurf am 16.2.06 vom Europäischen Parlament angenommen. Er ist mit einer Gegenüberstellung zum ursprünglichen Entwurf veröffentlich auf der Webseite des Europaparlaments, erreicht über die Einführung "Freier Dienstleistungsverkehr" vom 20.2.06 am 25.2.06 (sh. unten die Erläuterungen zur weitgehenden Beibehaltung des umgetauften Herkunftslandprinzips).

Zu den Protesten gegen die „Bolkestein-Richtlinie“ sagte Verheugen in seinem Interview vom 2.4.2005 mit dem Deutschlandradio Kultur:
 

Ich bin etwas bekümmert, lassen Sie es mich mal so sagen, über einen erschreckenden Mangel an Informiertheit in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit …
Bis in die Spitzen von Parteien hinein und Fraktionen, das ist richtig. Es ist aber auch richtig, dass der von der früheren Kommission vorgelegte Entwurf an einigen Stellen verbessert werden muss, weil der Entwurf zumindest missverständlich formuliert ist. Das hat die Kommission aber vor einigen Wochen ja bereits angekündigt, dass sie dazu bereit ist.
 

Zu den hier weiter oben erwähnten Massenentlassungen in deutschen Schlachthöfen und zur Übernahme kompletter Abteilungen durch polnische Entsende-Unternehmen sollen Verheugens Antworten hier ausführlich zitiert werden, weil damit der Zusammenhang zwischen Dienstleistungsrichtlinie und Entsenderichtlinie klarer wird. Er sagte zu diesen Dumping-Methoden:
 

Es hat aber nichts mit Europarecht zu tun, es hat damit etwas zu tun, dass Deutschland, anders als andere europäische Länder, die so genannte Entsenderichtlinie nur teilweise umgesetzt hat. Die Entsenderichtlinie ist schon viele Jahre alt, das passierte schon zur Zeit der Regierung Kohl …

(Interviewer: 1996)

… und die besagt, dass die Mitgliedsländer die Bedingungen festlegen, unter denen Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedsland der Europäischen Union bei ihnen arbeiten dürfen. Das bezieht sich insbesondere auf Löhne und Sozialstandards. Das ist in Deutschland, für mich erstaunlich, nur umgesetzt worden im Bereich des gesamten Baugewerbes und des Reinigungsgewerbes. Also wenn es jetzt ein Problem gibt bei Schlachthöfen, ist es kein großes Problem, diese Lücke zu schließen, einfach durch Rechtsverordnung kann das geschehen oder durch Allgemeingültigkeitserklärung eines Tarifvertrages. Deutschland hat jede rechtliche Handhabe, diese Störung, von der Sie gesprochen haben, zu unterbinden, und man sollte deshalb dieses Problem nicht vor der europäischen Haustür abladen, sondern da, wo es hingehört: beim deutschen Gesetzgeber…

Die meisten EU-Mitglieder - ich glaube 19 von 25 - haben Mindestlöhne eingeführt. In Deutschland ist das aus Gründen, die mit der Tarifautonomie zusammenhängen, nicht geschehen, deshalb gibt es in Deutschland nur die Möglichkeit, die Allgemeingültigerklärung von Tarifverträgen hier vorzusehen. Es sei denn, man würde diese Haltung ändern. Aber das ist nicht etwas, womit ich mich befassen muss, die Deutschen müssen selber entscheiden wie sie das Ziel der Richtlinie sicherstellen, nämlich dass durch entsandte Arbeitnehmer aus einem anderen EU-Land kein Lohn- oder Sozialdumping entstehen soll. Das wäre genau das Ziel. Wir wären doch verrückt in Europa, wenn wir es zulassen würden, dass Arbeitslosigkeit in einem Land dadurch bekämpft wird, dass man sie in einem anderen Land erzeugt. Das ist doch geradezu widersinnig. Und genau aus diesem Grunde gibt es diese Entsenderichtlinie, und die Deutschen müssen sich mit der Frage befassen, ob es jetzt, nachdem es mehr Freizügigkeit im Bereich von europäischen Dienstleistungen gibt, ob sie sich das nicht noch einmal ansehen müssen und vielleicht die Regelungen etwas enger fassen müssen.

(Interviewer: Die Entsenderichtlinie wird zum Bestandteil der Dienstleistungsrichtlinie?)

Ja. In dem so heftig kritisierten Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie steht - ich glaube schon in Artikel 4 - wörtlich drin: Die europäische Entsenderichtlinie bleibt voll inhaltlich in Kraft. Deshalb hätte diese ganze Diskussion über Lohn- und Sozial-Dumping vermieden werden können, wenn diejenigen, die diese Diskussion geführt haben, den Text des Entwurfs gelesen hätten.
 

Die Erweiterung der Entsenderichtlinie über das Baugewerbe hinaus wurde jedoch von der CDU-Bundesratsmehrheit abgelehnt (sh. oben).

Im Gegensatz zur obigen Annahme von Verheugen wurde die Entsenderichtlinie in Deutschland offenbar nur für das Baugewerbe, aber noch nicht für das Gebäudereinigerhandwerk umgesetzt.  Dieses Gewerbe ist lediglich zur Zeit noch geschützt durch die oben erwähnten Zuzugsbeschränkungen. Die Einbeziehung hätte auch für die Zukunft unmittelbar praktische Folgen gehabt:
 

Außerhalb des bereits jetzt vom AEntG erfassten Baubereichs erfüllt bislang nur das Gebäudereinigerhandwerk die Voraussetzungen einer bundesweiten Lohntarifvertragsstruktur sowie einer bereits ausgesprochenen  Allgemeinverbindlicherklärung.
 

(Sh. den rotgrünen Gesetzentwurf lt. BT-Drs. 15/5445 v. 10.5.2005, S. 4, IV. Gesetzesfolgen, und dazu die o.a. BT-Drs. BT-Drs. 15/5810, sowie „Stellungnahme des … Gebäudereinigerhandwerks zum Vorschlag der EU-Kommission über Dienstleistungen im Binnenmarkt …“ v. 15.2.2005). Es handelt sich daher um einen interessanten Fall für die Erfüllung der beiden Voraussetzungen, die für die Wirksamkeit des Entsendegesetzes ohnehin gegeben sein müssen, solange keine gesetzlichen Mindestlöhne gelten.

Dagegen würden in der Fleischindustrie offenbar nur Mindestlöhne helfen, weil  die Unternehmer nicht für tarifvertragliche Regelungen zu haben sind (sh. "Zur Übertragbarkeit des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die deutsche Fleischbranche", IAT-Report 2005-03, S. 8). Ganz im Gegenteil arbeiten etliche von ihnen mit kriminellen Schleppern aus Deutschland zusammen oder halten diese gar selbst zu ihren kriminellen Praktiken an (sh. den hervorragend recherchierten Film "Die Fleischmafia", von Adrian Peter und Kim Otto aus dem Jahre 2005). Bei solchen Ausbeutungs- und Gammelfleisch-Profiteuren kann es auch kein Verständnis dafür geben, dass diese deutschen Unternehmen selbst unter gewissem Druck der Produktionsverlagerung ins unmittelbar benachbarte Polen oder Tschechien stehen, so dass ihre erheblichen Investitionen in teilweise hoch automatisierte Betriebe durch den ausländischen Konkurrenzdruck entwertet würden.

Auch am Beispiel der Fleischindustrie zeigt sich wieder der grundlegende Unterschied zwischen der Beurteilung der Lohnfestsetzung im Dienstleistungsbereichs einerseits und in der Sachgüterproduktion andererseits, wobei jedoch die verlagerungsfähigen Dienstleistungen oft wie Sachgüter zu beurteilen sind (Softwareproduktion; mehr und mehr auch Verwaltungsarbeiten sowie Projektierungen, soweit die Barriere der deutschen Sprache eine Verlagerung zulässt). Bei der Verlagerung von Dienstleistungen aus Deutschland nach Irland - wegen des EU-subventionierten Steuerdumpings zugunsten der Unternehmer - zahlen diese auch gern Hochlöhne für deutsche Telefonisten, die ihren Arbeitsplatz dorthin verlagern.

Die jetzige Regierung könnte zwar gesetzliche Mindestlöhne einführen, aber auch das wird von starken Teilen der CDU abgelehnt. Dazu schrieb DIE WELT am 13.2.06: „Geplanter gesetzlicher Mindestlohn spaltet die Union“ und weiter:
 

Während sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber bei einem Bund-Länder-Treffen am vergangenen Donnerstag für Mindestlöhne aussprechen, lehnten CSU-Generalsekretär Markus Söder und Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt das Vorhaben ab. Auch Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) ist gegen Mindestlöhne.

"Wenn es in 15 europäischen Ländern einen Mindestlohn gibt, dann ist schlecht zu erklären, warum bei uns nicht", sagte Merkel nach Informationen des "Focus". Das Thema dürfe man nicht der SPD überlassen. Ähnlich habe sich Stoiber geäußert. Milbradt warnte hingegen, daß ein Mindestlohn "Hunderttausende Arbeitsplätze" kosten würde. Söder argumentierte, daß ein solches Projekt "die Wählerschaft im Mittelstand" verschrecken würde.
 

Man sieht also einerseits die typische Klientelpolitik für den „Mittelstand“, womit aber keineswegs die Normalverdiener oder etwas gehobenen Besserverdiener gemeint sind und auch nicht die Kleinunternehmer, die unter den Dumpingpreisen ausländischer Entsender besonders leiden.

Andererseits wirken sich aber auch die Mindestlohnforderungen des Linksbündnisses auf die Bereitschaft der etablierten Parteien zu Mindestlöhnen aus. Durch die Forderungen des Linksbündnisses kam zunächst wieder einmal die SPD in Zugzwang, und übernahm  notgedrungen diese Forderung, auch auf Druck der Gewerkschaften, nachdem der Kanzler der Bosse jetzt selber Ölboss geworden ist, sein Einfluss in der Partei gegen die Arbeitnehmerinteressen also entfällt und diese daher auch wieder eine minimale Chance haben. Nach solchem Aufflackern sozialdemokratischer Restbestände konnten sich die Wahlstrategen der CDU in der Nachfolge von Helmut Kohl dieser Forderung ebenfalls nicht einfach entziehen.

Auf der anderen Seite können Mindestlöhne in Verbindung mit Steuerdumping bei der Massenproduktion von Sachgütern tatsächlich zur Verlagerung von Arbeitsplätzen führen, wie man an den Beispielen AEG, Continental und sogar bei der Autoproduktion sieht. Zwar liegen die Löhne in diesen Bereichen deutlich über den voraussichtlichen Mindestlöhnen. Die derzeitigen Löhne – auch bei kapitalintensiver Sachgüterproduktion - können deshalb schon jetzt als Begründung für den Arbeitsplatzexport dienen, um den eigentlichen Anreiz zu verschleiern, nämlich die Gewinnverschiebung wegen der EU-subventionierten Dumping-Steuer in den Niedriglohnländern. Aber auf längere Sicht würden selbst die niedrigen Mindestlöhne noch als Argument für den Arbeitsplatz-Export herhalten.

In Verbindung mit der Dienstleistungsrichtlinie wirken sich Mindestlöhne für Dienstleistungen jedoch kaum entscheidend auf die Sachgüterpreise des Exportweltmeisters Deutschland aus. Wie üblich, wird eine halbwegs plausible Überlegung gleich als Dogma zur Klientelpolitik zurechtgebogen.


Zur geänderten Fassung der Dienstleistungsrichtlinie heißt es in den Aktuellen Meldungen des Europaparlaments vom 16.2.06:

 

Dienstleistungskompromiss findet im Parlament eine Mehrheit
Nach einem zweistündigen Abstimmungsmarathon hat das EU-Parlament heute die radikal abgeänderte Richtlinie über die Dienstleistungsfreiheit angenommen. Die Kompromissvorschläge, die die beiden größten politischen Fraktionen formuliert hatten,  fanden im Plenum Unterstützung. Der geänderte Text wurde mit 394 Ja-Stimmen, 215 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen verabschiedet...
 

und dann weiter beschwichtigend an die Adresse der Entwurfsgegner im verlinkten Presse-Info vom 20.2.06, Hervorhebung vom Verfasser:
 

Nach zweijährigen Beratungen hat das Europäische Parlament heute in Erster Lesung über die EU-Dienstleistungsrichtlinie abgestimmt...
Das Parlament stellte klar, dass das nationale Arbeits- und Sozialrecht auch weiterhin gilt... 
Am heftigsten umstritten war das sog. Herkunftslandprinzip.
Die Änderungen des Europäischen Parlaments zum Herkunftslandprinzip betreffen vier Punkte...
Erstens... Der Begriff "Herkunftslandprinzip" wird in der gesamten Richtlinie ersetzt durch den Begriff "Freier Dienstleistungsverkehr", um auch sprachlich den vorgenommenen Änderungen am ehem. Herkunftslandprinzip Rechnung zu tragen.
 

Als zweiter Punkt folgen gewisse Schutzrechte der Mitgliedstaaten aus "Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, des Umweltschutzes und der öffentlichen Gesundheit". Im dritten Punkt werden diese Schutzrechte wieder eingeschränkt und im vierten Punkt wird ein Bericht der Kommission nach fünf Jahren mit weiteren  "Harmonisierungsvorschlägen"  gefordert. Dann heißt es in dem Info weiter (Hervorhebung vom Verfasser):
 

Umstritten war zwischen den Fraktionen lange Zeit die Frage, ob die Mitgliedstaaten den freien Dienstleistungsverkehr auch aus Gründen der Sozialpolitik und des Verbraucherschutzes einschränken können.  Befürchtet wurde, dass damit die Dienstleistungsfreiheit unterlaufen und künstliche Barrieren errichtet werden könnten. Die beiden großen Fraktionen, EVP und SPE, einigten sich schließlich darauf, keinen Verweis auf Sozialpolitik und Verbraucherschutz aufzunehmen...
 

Das Umtaufen des "Herkunftslandprinzips" in "Freizügigkeit für Dienstleistungen" erfolgt z.B. in der Überschrift zur "Abänderung 152 Kapitel III Abschnitt 1" und zu Artikel 16 des verabschiedeten Parlamentsentwurfs vom 16.2.06. Eine Regulierung der Dienstleistungsfreiheit "aus Gründen der Sozialpolitik" ist also lt. Presse-Info vom 20.2.06 nicht zulässig. In dem verwirrenden PR-Info wird andererseits gegenüber den düpierten Entwurfsgegnern beteuert: "Das Parlament stellte klar, dass das nationale Arbeits- und Sozialrecht auch weiterhin gilt..." (sh. oben). Aber was bedeutet dies für das Lohn- und Sozialdumping? Einer Antwort auf diese Frage kommt man näher, wenn man in dem Entwurf mit Strg/f sucht nach [sozialpolit],  [sozialrecht], [lohn] und [löhn].

Zu den "Gründen der Sozialpolitik und des Verbraucherschutzes" (sh. vorstehendes Info-Zitat) hat das Parlament in den Kommissionsentwurf (ebd.) als weitere Möglichkeit zur Beschränkung der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit noch "Sozialpolitik und Ziele der öffentlichen Gesundheit" eingefügt in den Kommissionstext:
 

...zwingende Gründe des Allgemeininteresses ..., wie etwa den Schutz der städtischen Umwelt, die Sozialpolitik und Ziele der öffentlichen Gesundheit...
 

Die Einbettung von Sozialpolitik zwischen "Umwelt" und "Gesundheit" zeigt schon, dass es hier nicht um Lohn- und Sozialdumping im Sinne der Entsenderichtlinie geht.

Was bedeutet dann aber die betonte Weitergeltung des "nationalen Arbeits- und Sozialrecht"? Dazu heißt es in "Abänderung 9, Erwägung 6d (neu)", ebenda, Hervorhebung vom Verfasser:
 

(6d) Angesichts des Umstands, dass der Vertrag spezifische Rechtsgrundlagen für Fragen des Arbeits- und Sozialrechts vorsieht, und um sicherzustellen, dass die vorliegende Richtlinie diese Fragen nicht berührt, ist es erforderlich, den Bereich des Arbeits- und Sozialrechts aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen.
 

Mit "der Vertrag" ist hier der EG-Vertrag gemeint, und der sieht keine derartige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit vor. Also bedeutet die gepriesene "Weitergeltung von Arbeits- und Sozialrecht" im Grunde, dass es durch grenzüberschreitende Dienstleistungen  unterlaufen werden kann - nach dem umgetauften "Herkunftslandprinzip". Insofern handelt es sich um reine Begriffskosmetik. Als Instrument gegen Lohn- und Sozialdumping bleibt also erwartungsgemäß nur die einbezogene Entsenderichtlinie. Die kann zwar durch Mindestlöhne ein wenig gegen Lohndumping helfen, aber nicht gegen das Sozialdumping durch "Einsparung" von bis zu über 40 Prozent Sozialversicherungsbeiträgen, dem allein schon durch die mangelnden Kontrollmöglichkeiten Tür und Tor geöffnet ist.

Die Einbeziehung der Entsendelinie sollte man nicht als Besonderheit, sondern als  Selbstverständlichkeit erwarten.
Aber offenbar hatte die neoliberale Kommission die Einbeziehung ihrer eigenen Entsenderichtlinie in den Entwurf ihrer Dienstleistungsrichtlinie unterschlagen, denn in den Parlamentsentwurf wird sie erst einbezogen durch die "Abänderung 50 Erwägung 41a (neu)", die das Parlament eigens dafür geschaffen hat. Hier sieht man auch, dass die Dumping-Konditionen in der Richtlinie als "Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen" bezeichnet werden, womit sie von dem herausgenommenen "Bereich des Arbeits- und Sozialrechts" gemäß Abänderung 9 unterschieden werden. Die ausdrückliche Herausnahme dieses Bereichs aus dem Herstellungslandprinzip ist ein weiterer Beleg dafür, dass er vorher davon betroffen war und anscheinend auch die Dumpingabwehr durch die Entsenderichtlinie in Frage stellen sollte.

Trotz aller Plausibilität aus neoliberaler Sicht, kann man sich andererseits eine Absicht bei der Unterschlagung der Einbeziehung kaum vorstellen, da die Entsenderichtlinie vielfach schon in nationales Recht umgesetzt wurde. Aber es ist den neoliberalen EU-Lobbyisten zuzutrauen, dass sie gegen die Entsenderichtlinie unbemerkt neues Recht setzen wollten, so dass erst vor dem EuGH später klar werden sollte, dass das alte Recht erledigt wurde. Dann hätten sie darauf hoffen können, dass mit den zehn neuen Mitgliedern die Mehrheitsverhältnisse für eine Korrektur nicht mehr reichten.

Nähere Erläuterungen zu den genannten Änderungen sind zu finden in dem Info des EU-Parlaments: "Debatte und Abstimmung zur Dienstleistungsrichtlinie - jüngste Entwicklung", vom 14.2.06. Darin heißt es:
 

Die beiden größten Fraktionen des EP, die Europäische Volksparte (EVP) und die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), haben zu einigen strittigen Punkten, etwa dem Herkunftslandprinzip, gemeinsame Anträge eingereicht.
 

Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für das Mitentscheidungsverfahren und Vertreterin dieser schwarzrötlichen Koalition ist Evelyne Gebhardt (SPD). In dem Info findet sich ein interner Link zu ihrem gemeinsamen Änderungsantrag und den übrigen 403 Änderungsanträgen zum Kommissionsentwurf.

Tatsächlich findet man dort die "Rechtfertigung" ("Justification") für die ausdrückliche Einbeziehung der Entsenderichtlinie - im Anschluss an "Amendment 50 - Recital 41a (new). Diese Einfügung wird dort aber nur als "Klarstellung" bezeichnet ("this new recital clarifies...").

Mit der gepriesenen "Weitergeltung von nationalem Arbeits- und Sozialrecht" soll lediglich die Vereinbarung von EU-Regelungen zur Sozialpolitik weiterhin ermöglicht werden. Diese Begründung ("Justification") findet man gleich im Anschluss an "Amendment 9 - Recital 6d (new)".  Es geht also gar nicht um "nationales" Arbeits- und Sozialrecht, sondern um die Vereinbarung von EU-Recht.

Von einer Streichung des Herkunftslandprinzips kann also keine Rede sein.

Die neoliberale Presse stellt das jedoch anders dar und hat ihre Desinformation noch verstärkt. So heißt es in der FAZ vom 14.2.06 zu den erfolgten Änderungen:
 

Das Europäische Parlament widerstand dem Druck der Straße lange. Große Teile der konservativen EVP wehrten sich mit den Liberalen und den Abgeordneten der neuen EU-Staaten gegen die Forderung der im Parlament für die Richtlinie zuständigen Berichterstatterin, Gebhardt (SPD), das Herkunftslandprinzip zu streichen. Eine Woche vor der Abstimmung jedoch scheint den Konservativen der Glaube zu fehlen, daß sie damit die Mehrheit erringen können. Sie einigten sich mit der anderen großen Fraktion des Parlaments, den Sozialisten, doch noch darauf, auf das Prinzip zu verzichten. Die Richtlinie soll nun nur noch verbieten, Vorschriften zu erlassen, die unnötig sind oder ausländische Anbieter diskriminieren.
 

DIE WELT vom 16.2.06 schreibt unter der Überschrift "EU-Dienstleistungsrichtlinie beschlossen":
 

Das strittige Herkunftslandprinzip soll weitgehend gestrichen werden...
Die Abgeordneten kippten das besonders umstrittene Herkunftslandprinzip...
 

Ebenfalls am 16.2.06 schrieb die Welt unter der Überschrift "Mächtiger Bremser":
 

Auf Druck von Schulz hat das Parlament nun das Herkunftslandprinzip weitgehend verbannt. Zwar kann jeder zugelassene Dienstleister überall in Europa aktiv werden, die Ausführung muß aber nach den Regeln vor Ort geschehen.
 

Und am 17.2.06 hieß es ebenda unter der Überschrift "EU-Parlament entschärft Dienstleistungsrichtlinie":
 

Das als Wegbereiter für Sozialdumping kritisierte Herkunftslandprinzip, nach dem Dienstleister bei Tätigkeiten im EU-Ausland nur den Regeln ihres jeweiligen Heimatlandes unterworfen werden sollten, wurde gestrichen.
 

Diese Desinformation wurde von den meisten Medien weiterverbreitet oder nachgeplappert. Auf dieser Linie war am 25.2.06 auch noch der Wikipedia-Artikel zur Europäischen Dienstleistungsrichtlinie mit der Aussage:
 

Am 16.02.2006 wurde die Dienstleistungsrichtlinie nur ohne das umstrittene Herkunftslandprinzip vom Europaparlament verabschiedet.
 

In der Tat ließ sich der als "mächtiger Bremser" kritisierte Schulz tüchtig feiern für seinen Scheinerfolg beim Herkunftslandprinzip mit den vielen eingefügten neuen und alten Wortgirlanden. Sollte es ein echter Erfolg gewesen sein, dann wäre die Begründung ("Justification") seiner Fraktion für den eingefügten Hinweis auf die Entsenderichtlinie eine Lüge.

Es bleibt also bei dem "erschreckenden Mangel an Informiertheit in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit …Bis in die Spitzen von Parteien hinein und Fraktionen," den Günter Verheugen in seinem obigen Interview mit dem Deutschlandradio Kultur beklagt hat. Aber diesmal wirkt diese Ignoranz oder mutwillige Desinformation zu seinen Gunsten und wurde durch die Informationspolitik seiner großen Koalition im EU-Parlament noch verstärkt. In Wirklichkeit ging es bei dem ganzen PR-Rummel für die schwarzrötliche Koalition im EU-Parlament nur um Kosmetik, was auch der Europaabgeordnete Martin Schulz (SPD) indirekt bestätigte (sh. unten).

Dagegen erläuterte Sahra Wagenknecht schon am 11.2.06 in dem oben zitierten Artikel klarsichtig und unbedingt lesenswert, welch "Fauler Kompromiss" da fünf Tage später bevorstand.  Die obigen Ergebnisse der Entwurfsanalyse zum Lohndumping werden damit im nachhinein weitgehend bestätigt durch eine direktere, umfassendere und aufschlussreiche Textanalyse, die sich offenbar auf Sahra Wagenknechts Teilnahme an der Diskussionen stützen kann. Einen Link zu ihren weiteren Beiträgen und ihrer kurzen EU-Parlamentsrede vom 14.2.06 gegen die Dienstleistungsrichtlinie findet man auf ihrer Webseite. Darin sagt sie auch das Ende der Kontrollmöglichkeit von zuströmenden Scheinselbständigen voraus. Gerade die Scheinselbständigkeit lässt sich ja fatalerweise auch nicht durch die erweiterte Anwendung der Entsenderichtlinie kontrollieren.

Zu dem EU-Abgeordneten Martin Schulz (SPD) und zur SPD-Propagandistin Evelyne Gebhardt schreibt sie:
 

Martin Schulz erläuterte vor einigen Wochen erstaunlich ehrlich die sozialdemokratische Verhandlungsstrategie: »Letztlich geht es in den Gesprächen der kommenden Wochen weniger um inhaltliche als um sprachliche Korrekturen. ... Mit den Grundzügen der Richtlinie können die Sozialdemokraten leben – zumindest in der Fassung, die der Binnenmarktausschuß im Herbst beschlossen hat.«

Der Begriff des Herkunftslandes als solcher freilich tauchte bereits in der vom Binnenmarktausschuß verabschiedeten Version der Richtlinie nicht mehr auf. Die Überschrift von Artikel 16, die ursprünglich »Herkunftslandprinzip« lautete, wurde in »Freizügigkeit für Dienstleistungen« umgeändert. Wenn Evelyne Gebhardt jetzt als Erfolg verkündet, sie habe »den umstrittenen Artikel 16 (Herkunftslandprinzip) durch ›freedom to provide services‹ ersetzt«, ist ihr offenbar entfallen, daß eben diese Veränderung bereits im November von der konservativen Fraktion durchgesetzt wurde.
 

Grund für die Lobreden von Martin Schulz und anderen auf die Schaumschlägerei seiner schwarzrötliche Koalition im EU-Parlament ist offenbar eine Stimmungsmache für die schwarzrötliche Koalition in Berlin. Die Schwarzen finden so in den neoliberalen Medien Unterstützung für ihren Merkel-Faktor und die Rotkarierten wollen sich für die nächsten Wahlen zu Unrecht als Anwälte der kleinen Leute profilieren. Ohne Erfüllung dieser Aufgabe haben sie keinen Anspruch auf ihre überhöhten Bezüge, sondern bestenfalls auf ihr Hartz-IV-Programm. Für die bestverdienenden Lobbyisten in den Medien und bei der EU müssen sie sich nicht profilieren, denn die setzen schon selbst mit allen Mitteln ihre Interessen durch.

Zu der Wählertäuschung und deren Opfern schrieben Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine in einem gemeinsamen Aufruf vom 9.2.06:
 

Der von den Sozialdemokraten gefeierte Durchbruch ist deshalb vor allen Dingen ein Durchbruch, was die eigenen Reihen betrifft. Der öffentlich vorgegaukelte Spagat zwischen Matthias Platzeck, der zur Demonstration aufruft, und Martin Schulz, der auf Konsens mit den Konservativen setzt, ist pünktlich zur Abstimmung beendet worden.

Es bleibt zu hoffen, dass die Beschäftigten und die ebenfalls von der Richtlinie in ihrer Existenz bedrohten Klein- und Mittelunternehmen sich nicht von den präsentierten Lügen und Fehlinformationen blenden lassen. Weiterhin muss Widerstand geleistet werden gegen die Große Koalition der Sozialabbauer und Verfechter eines neoliberalen Europa! Die Richtlinie ist nicht substanziell verändert oder eingeschränkt worden. Sie ist auch mit den angeblichen Kompromissen das, was sie immer war - ein Freibrief für Sozialabbau, Lohndumping und ungehemmte Profite der Großkonzerne. Mächtige Demonstrationen gegen die Dienstleistungsrichtlinie sind deshalb jetzt dringender nötig denn je!
 

Das Gehabe von Martin Schulz beschreibt auch Korbinian Frenzel, Straßburg, in seinem Artikel "Schutzmacht Europa", jungle-world.com, 22.2.06. Darin erwähnt er auch den Umfang der Demonstrationen:
 

Zumindest für die deutschen Zuhörer muss es ein déjà-vu gewesen sein, als Martin Schulz am Dienstag vergangener Woche eine sieben Minuten lange Siegesrede vor dem Europäischen Parlament in Strasbourg hielt. »Bolkestein existiert seit heute nicht mehr«, proklamierte der Fraktions­chef der Sozialdemokraten mit Inbrunst und einem Testosteronspiegel, der an die berühmte Fernseh­runde nach der Bundestagswahl mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder erinnerte....
Nach einem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbunds hatten sich am Dienstag voriger Woche rund 40.000 ­Demonstranten nach Strasbourg aufgemacht, um gegen die Bolkestein-Richtlinie zu protestieren.


Allerdings ist Frenzel selbst Opfer der gezielten Verwirrung, wenn er meint, dass der schwarzrötliche Entwurf "die Richtlinie in zentralen Punkten entschärft". Weiter schreibt er:
 

In der überarbeiteten Version taucht das umstrittene Herkunftslandprinzip nicht mehr explizit auf. Hätten die Gewerkschaften und Verbände ihre Busse ins Elsass nicht schon lange vorher gebucht, wären vielleicht am Dienstag vergangener Woche sehr viel weniger gekommen. Warum jetzt noch demonstrieren? »Um den Druck aufrechtzuerhalten«, legte sich ein Verdi-Mitglied aus Stuttgart ein Argument zurecht.
 

Man hat den Eindruck, dass die Gewerkschaften ebenfalls auf das Verwirr-Monstrum mit der Wortkosmetik hereingefallen sind und dass Günter Verheugen auch hier recht behält mit seiner obigen Klage über den "erschreckenden Mangel an Informiertheit in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit …Bis in die Spitzen von Parteien hinein und Fraktionen". Aber diesmal dürfte aus Verheugens Klage eher ein Triumphgesang werden, weil die weiteren Verwirrungen des Textes nur noch für deren neoliberale Urheber durchschaubar sind und nur für sie die künftigen Auslegungen des Europäischen Gerichtshofes im Sinne ihres Neoliberalismus einigermaßen voraussehen lassen.

Zu all dem bleiben noch die Probleme bei der grenzüberschreitenden Kontrolle des Dumpingschutzes bestehen (sh. auch "Europäisches Parlament ignoriert Interessen der ArbeitnehmerInnen", wien.arbeiterkammer.at, 16.2.06). Die Kontrollmängel wurden im Hinblick auf die Entsenderichtlinie schon weiter oben kurz erläutert: Sie sind aber durch die Dienstleistungsrichtlinie noch wesentlich verschärft worden.

Man muss dabei über den 1.5.2011 als spätesten Termin hinaus denken, wenn der Zustrom von Arbeitskräften aus den EU-Niedriglohnländern nicht mehr reguliert ist (sh. oben) und deutsche Arbeitplätze massenhaft verdrängt werden durch „Entsendung“ mit Lohndumping und unkontrollierbarem Sozialdumping. 

Allein schon die Mängel bei der Kontrolle gemäß Artikel 34 ff. des Richtlinienentwurfs sollten seine Annahme ausschließen:

In Artikel 34 ist die ausschließliche Kontrolle durch den Mitgliedstaat der Hauptniederlassung vorgesehen. Diese Aufgabe könnte er im Zielland zwar kaum leisten, aber das käme dem entsendenden Mitgliedstaat mit hoher Arbeitslosenquote wohl nicht ungelegen. Die erstrittene „Abänderung 200“ enthebt ihn zwar dieser Aufgabe im Zielland und sieht stattdessen die Kontrolle durch die Behörden des Ziellandes auf ihrem Gebiet vor. Dem Mitgliedstaat der Hauptniederlassung bleibt also lediglich die Verpflichtung zur Kontrolle auf seinem Gebiet. Das klingt zunächst plausibel.

Die Probleme liegen jedoch in der praktischen Durchführung der Kontrollen und in den Sanktionsmöglichkeiten. So gilt z.B. nach wie vor die Kritik auf der Webseite des ORF Steiermark mit Datum vom 30.5.06 unter der Überschrift "Keine Sanktionen - AK kritisiert Dienstleistungsrichtlinie":

 

"Es fehlen wirksame Kontrollmöglichkeiten"
Kritik an der neuen Richtlinie kam vom steirischen Arbeiterkammerpräsidenten Walter Rotschädl: "Uns fehlen nach wie vor wirksame und durchsetzbare Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten wenn zum Beispiel das Arbeitsrecht verletzt wird. Wir könnten wohl in Österreich eine Strafe verhängen, aber wir könnten sie nicht exekutieren, weil es kein Abkommen mit den EU-Ländern gibt", so Rotschädl.
 

Auch von der Zusammenarbeit bei den Kontrollen ist nicht viel zu erwarten. Man erkennt das schon an den jüngsten Angriffen auf die bisherigen deutschen Kontrollmöglichkeiten zur Entsenderichtlinie (sh. hier Abschnitt 4). Wenn deutsche Dienstleister z.B. in Polen ihre Hauptniederlassung anmelden und von dort polnische und/oder deutsche Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden, sind Bescheinigungen über die tatsächliche Entrichtung von Sozialabgaben durch die polnischen Behörden auszustellen. Die deutschen Behörden können und dürfen nur das Vorhandensein und die Echtheit der Bescheinigungen prüfen. Den Zustrom von vertrags- und gesetzeswidrig beschäftigten Arbeitnehmern aus Polen nach Deutschland und die Lohndrückerei durch illegale „Einsparung“ von mehr als 40% Sozialabgaben nach deutschem Standard sollen also die polnischen Behörden verhindern durch gewissenhafte Ausstellung solcher Bescheinigungen. Die Überwachung der Weiterzahlung von Sozialbeiträgen für einmal ausgestellte Versicherungsbescheinigungen ist den deutschen Behörden aber nicht möglich.

Die groben Mängel bei der Regelung der Kontrollmöglichkeiten sind nicht nur auf Schlamperei oder auf die verbreitete Gleichgültigkeit der bestbezahlten Eurokraten gegenüber den Problemen der Dumping-Opfer zurückzuführen. Vielmehr haben sie System. Gerade die Sabotage der Kontrollmöglichkeiten ist der wichtigste Ansatz gegen den Schutzzweck der Richtlinien.

Bisher sind die Entsendemöglichkeiten auch für das Baugewerbe noch stark eingeschränkt (sh. Anhang XII  der „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte", a.a.O.). Ins Baugewerbe strömen zur Zeit nur Selbständige, viele Scheinselbständige und Kontingentarbeitnehmer nach den „Werkvertragsabkommen“ (sh. oben). Dennoch hat der vorläufig stark beschränkte Zustrom schon jetzt beachtliche Dumpingwirkungen. Dazu schreibt Wolfgang Jungen in seiner oben zitierten Untersuchung: Bauwirtschaft und EU-Ostintegration in der deutsch-polnischen Grenzregion, Viadrina, September 2003, S. 52:
 

Sowohl für deutsche Arbeitnehmer im Baugewerbe, als auch für deutsche Bauunternehmer, bedeutet die EU-Ostintegration eine Verschärfung der Wettbewerbslage...

Zuwachs pro Jahr: 20000 Bau-Erwerbstätige

Die jährliche Zuwanderung aus Osteuropa nach Deutschland wird auf bis zu 60.000 Erwerbstätige geschätzt. Es wird damit gerechnet, dass rd. ein Drittel davon im Baugewerbe beschäftigt sein wird. Insgesamt, ist in den nächsten 15 Jahren mit 110.000 bis 200.000 zusätzlichen Bau-Arbeitskräften aus Osteuropa zu rechnen. Gerade im Bereich der Geringqualifizierten, wird sich das Arbeitsangebot ausweiten. Hier ist mit einem Verdrängungswettbewerb zu rechnen, der dann dämpfend auf die Löhne wirkt.

Entsendegesetz bietet wenig Schutz

Das deutsche Entsendegesetz bietet davor nur wenig Schutz, da Sozialversicherungsbeiträge nicht darunter erfasst sind und v.a. weil ausländische Selbstständige nicht unter den Wirkungsbereich des Gesetzes fallen. Hinzukommt, dass Alleinunternehmern von Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der Übergangsregelungen nicht betroffen sind und ggf. allenfalls von Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit betroffen wären, die aber im Bausektor wohl eher nicht zu erwarten sind.


Der Druck wirkt sich also zwangsläufig auch auf den Bauunternehmer aus. Er wird dazu gedrängt, dass er entsandte Arbeitnehmer beschäftigt, für die man durch Entsendefirmen im Ausland sehr häufig nicht einmal die dortigen Dumping-Arbeitsverträge erfüllt und die Sozialversicherungsbeiträge nicht abführt (sh. das Beispiel Polen, ebd., S. 26 f.):
 

Ergebnisse der staatlichen Kontrollinstanzen (PIP):

Die staatliche Arbeitsinspektion (PIP) führte im Jahr 2002 ca. 1500 Kontrollen in Privatunternehmen durch. Zum Teil finden die Kontrollen auf Hinweise der Gewerkschaften statt. Bei mehr als 90 % der Betriebe liegen Gesetzes- und Vertragsverletzungen vor. Alle Gesetzes und Vertragsverletzungen haben sich in den Jahren 2000 und 2001 prozentual weiter ausgedehnt. Die Ergebnisse sind :
 

* Vordringlich ist die nicht fristgerechte Auszahlung von Löhnen (68% gegenüber 62% im Vj.),

wobei geringer qualifizierte besonders betroffen sind.

* Bei 48,5% der Betriebe werden keine Urlaubsvergütungen gezahlt

* 40,3% der Betriebe zahlen keine Überstundenvergütungen

* Arbeitszeiten werden häufig nicht dokumentiert (keine gesetzlichen Vorgaben)

* Arbeitsbekleidungsäquivalente werden bei 37,3% der Betriebe nicht gezahlt

* Häufig werden die Lohnbestandteile für die Sozialversicherungsanteile oder auch

Gewerkschaftsbeiträge nicht vom Arbeitgeber abgeführt.
 

Man bringt also schon im eigenen Land das Sozialdumping sowie die „Gesetzes- und Vertragsverletzungen“ kaum ernsthaft unter Kontrolle. Wie viel weniger Interesse wird man bei der eigenen hohen Arbeitslosigkeit haben, die illegalen Entsendungen und den Zustrom nach Deutschland durch Kontrollen einzuschränken (sh. oben)! Unter diesen Umständen ist ein Sozialdumping in den westlichen EU-Staaten kaum zu vermeiden. Der Kommissionsvorschlag vom 4.4.06 bringt keine Verbesserung, sondern fällt noch hinter den "faulen "Kompromissvorschlag des Parlaments zurück.

Die einzige sinnvolle Regelung wäre die, dass auch für entsandte Arbeitnehmer die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland nach deutschen Sätzen erhoben würden und dass sie dann gegebenenfalls mit angemessenen Verwaltungskostenabschlägen an den entsendenden Staat weitergeleitet werden. Aber diese Regelung würde die Lobby der finanzstarken Arbeitgeberverbände über ihre zwischengeschalteten Lobbyisten in der Politik blockieren gegen die Interessen ihrer finanzschwachen Mitglieder (z.B. gegen kleine Bauunternehmen). Bei größeren Unternehmen muss man nämlich nicht den Bankrott durch Billigkonkurrenz fürchten, sondern man kann selbst durch massenhaften Einsatz von entsandten Arbeitnehmer die Kosten drücken und dadurch zunächst eine weitere Gewinnexplosion auslösen. Durch den Bankrott der finanzschwachen Verbandsmitglieder, kann man dann auch anschließend noch eine Weile die Preise halten nach Art der Supermärkte gegen die Tante-Emma-Läden. Aber schließlich verschärft sich auch die Konkurrenz unter den Großen, so dass sie dann versuchen werden, immer mehr Verwaltungs- und Planungsarbeiten zu noch niedrigeren Löhnen nach Asien zu verlagern.

Wenn die Politiker, sonstigen Meinungsmacher und Eurokraten nur ihren Lobbyisten dienen, mag es ihnen vielleicht noch besser gehen als ohnehin schon, aber sie zeigen auch, dass sie völlig fehl am Platze sind.

Ein Höhepunkt des Lobbyismus sind die irreführenden und mehr oder weniger einhelligen deutschen Pressemeldungen vom 30.5.06, mit denen ein erfolgter Kompromiss durch Beseitigung des Herkunftslandprinzips suggeriert wird. Das Handelsblatt präzisiert jedoch in seinem Artikel "Hintergrund: Die EU-Dienstleistungsrichtlinie", handelsblatt.com, 29.5.06:

 

Das von der Kommission ursprünglich vorgeschlagene „Herkunftslandprinzip“ hätte bedeutet, dass bei Dienstleistungen die Regeln des Heimatlandes gelten, aus dem der Anbieter kommt. Vor allem in den „alten“ EU-Staaten herrschte deswegen Angst vor Billig-Konkurrenz aus den „neuen“ EU-Ländern Mittel- und Osteuropas.

Das Herkunftslandprinzip wurde Mitte Februar vom Europaparlament gekippt. Das Parlament beschloss mit den Stimmen der großen Fraktionen, das Prinzip weitgehend aufzugeben. Das Arbeits- und Tarifrecht des Gastlands besteht nach dem Kompromiss uneingeschränkt fort. Verboten werden jedoch Vorschriften, die ausländische Anbieter diskriminieren.

Der neue Vorschlag der Kommission vom April orientierte sich weitgehend an diesem Beschluss.
 

Auch die meisten anderen Medien folgen mehr oder weniger der Sprachregelung, wonach das Herkunftslandprinzip "Mitte Februar vom Europaparlament gekippt" wurde. In Wirklichkeit wurde es nur umbenannt, und es hat sich an dem oben geschilderten trojanischen Richtlinienentwurf nichts Wesentliches geändert. Von dieser Tatsache lenkt Springers WELT geschickt ab, wenn sie die Richtlinie ihrer neoliberalen Mitkämpfer begrüßt mit dem Titel "Dienstleistungen: EU-Staaten hoffen auf hunderttausende neue Jobs", welt.de, 30.5.06. In dem Artikel lässt sie den Wirtschaftsstaatssekretär Joachim Würmeling (CSU) lobpreisen: "Das ist eine fein austarierte Balance zwischen Marktöffnung und Sozial- und Umweltschutz". Den EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy, Vertreter des bisher größten Steuerdumping-Profiteurs Irland, zitiert sie mit dem Jubel: "Das ist ein großer Tag für Europa".
 

Auch die SÜDDEUTSCHE (dpa/AP) titelte: "Ein großer Tag für Europa", sueddeutsche.de, 30.5.06. In Verteilungsfragen folgen ihre bestverdienenden Chefredakteure oft dem Mainstream. Wie der äußerlich weichgespülte Richtlinienentwurf vom EU-Parlament nun erneut zur EU-Kommission und dann zum EU-Ministerrat gelangte, beschreibt der Artikel wie folgt:
 

Die verantwortlichen Minister votierten am Montagabend in Brüssel nach über achtstündigen Verhandlungen ohne Gegenstimmen für den Kompromiss der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft...

Die EU-Kommission hatte im April einen neuen Entwurf für die Dienstleistungsrichtlinie vorgelegt. Darin verzichtet sie auf das "Herkunftslandprinzip", das zuvor bereits vom Europaparlament aus dem ursprünglichen Entwurf gestrichen worden war.
 

Tatsächlich war der "Bolkestein-Hammer" gemäß Richtlinienentwurf der EU-Kommission zumindest sprachlich etwas verkleinert worden durch den Gegenentwurf des EU-Parlamentes. Der "Kompromiss" zwischen EU-Kommission und EU-Ministerrat vom 30.5.06 dürfte vor allem darin bestehen, dass sie einige kosmetische Korrekturen angebracht haben, um schließlich auch einen Kompromiss mit dem EU-Parlament zu erreichen. Etliche Korrekturen durch das Parlament wurden wieder verwässert und in Richtung auf die Dumpinglinie der Kommission getrimmt.

Das hinderte die Mehrheit im EU-Parlament jedoch nicht, die Richtlinie ihrer profitierenden Lobbyisten am 15.11.06 zu verabschieden (sh. "Freibrief für Dumping", jungewelt.de, 16.11.06). Dabei hatte sie mit 80 Prozent der EU-"Volksvertreter" fast die gleiche Mehrheit, auf die die deutschen Neoliberalen dank Wählertäuschung, Kapital und Egoismus ebenfalls zählen können, sowohl im Deutschen Bundestag als auch in den Medien. Gegen diese Politik der vollendeten Tatsachen helfen jetzt nur noch gesetzliche Mindestlöhne (ebd.), wie sie in etlichen EU-Nachbarländern üblich sind bei einer dortigen Arbeitslosenquote, die teilweise nur halb so hoch ist wie in Deutschland (sh. die Länder unter Wikipedia/Mindestlohn). Aber auch solche Mindestlöhne können das Dumping bei mangelhaften Kontrollen nicht verhindern. Einfallstor ist z.B. die Vermeidung der ca. 40% Sozialbeiträgen, wenn die Sabotage gelingt gegen die Bereithaltung von Kontrolldokumenten in den Betrieben, gegen die Benennung von Zustellungsbevollmächtigten und die Vollstreckung von Sanktionen (sh. oben).


Was die Richtlinie - abseits von der neoliberalen Meinungsmache und vom schwarzrötlichen Koalitionsgejubel - tatsächlich weiterhin bezweckt, zeigt die "Anhörung der Bundestagsfraktion DIE LINKE" vom 21.3.06.

Die betroffenen Klein- und Normalverdiener werden sich von den bestbezahlten Eurokraten und sonstigen Neoliberalen auf Dauer nicht einlullen lassen. Da man ihnen die Gründe für ihre Ausplünderung nicht vermittelt und die Linke diffamiert, wenden sie sich eher zu den Rechtsradikalen. Diese fatale Entwicklung ist also von den neoliberalen Profiteuren selbst verursacht. Daher ist ihre Empörung darüber reine Heuchelei.  Auch die linke EU-Abgeordnete Sahra Wagenknecht sieht diese Entwicklung, bei der Abwehr von Existenzbedrohung leicht in Rechtsradikalismus umschlagen kann:
 

"Gerade in den westeuropäischen Ländern wird dies nationalistische Ressentiments zur Folge haben", meint die EU-Abgeordnete. So sorge die Bereitschaft osteuropäischer Arbeitnehmer für hierzulande niedrige Löhne zu arbeiten in der Baubranche immer wieder für Unmut.
 

(Sh. "Als Linke muss man die sozialen Interessen der Menschen vertreten", stuttgarter-wochenblatt.de, 16.11.06).




4) Erneute Angriffe auf Dumping-Kontrollen


Die
se Aushöhlung des Dumping-Schutzes durch die Dienstleistungsrichtlinie reicht den Dumping-Profiteuren jedoch nicht. Die Industrievertreter wenden sich weiterhin gegen staatliche Mindestlöhne, ohne die die Entsenderichtlinie ins Leere läuft. Auch die arbeitsmarktpolitische Abfederung von Mindestlöhnen durch eine negative Einkommensteuer nach US-Vorbild gefällt ihnen nicht, weil sie damit um ihre Steuergeschenke fürchten. Andererseits versuchen die Brüsseler Lobbyisten der angrenzenden EU-Neumitglieder eine Sabotage der Entsenderichtlinie durch Blockade ihrer Kontrollmechanismen, soweit diese durch die Entsende- und Dienstleistungs-Richtlinie erhalten geblieben sind.

Wichtigste Kontroll-Voraussetzungen sind die Pflicht zur Bereithaltung von Lohnunterlagen und Sozialversicherungsnachweisen bei Kontrollen auf Baustellen sowie die Benennung eines "Zustellungsbevollmächtigten" in Deutschland, damit Verwaltungsakte gegen das Dumping überhaupt praktikabel durchgesetzt werden können. Die Dumping-freundlichen überbezahlten EU-Kommissare wollen deshalb eine "Mitteilung" erlassen, wonach diese Pflichten entfallen. Bei der Dienstleistungsrichtlinie hatten sie  mit ihrem Angriff auf die Entsenderichtlinie von 1996 in der Hinsicht keinen Erfolg. Gegen die Kontrollmöglichkeiten wendet sich insbesondere Vladimir Spidla,  EU-Kommissar für Arbeit und Soziales und früherer tschechischer Premierminister. Er forderte von den Mitgliedstaaten: 
 

auf "ungerechtfertigte Kontrollen" zu verzichten. Die Entsenderichtlinie dürfe nicht dazu dienen, neue Hürden für Dienstleister aufzubauen.
 

(Sh. "Europaabgeordnete lehnen Aufweichung der Entsenderichtlinie ab", manager-magazin.de, 26.10.06.)

Gegen diese Kommissions-"Mitteilung" zwecks Beeinflussung des Europäischen Gerichtshofs wandten sich viele EU-Parlamentarier zum gleichen Zweck mit einem "Bericht". Dazu schreibt das manager-magazin.de (ebd.):
 

Die Mitteilung hatten viele Abgeordnete auch deshalb als "Affront" bewertet, weil Rat und Parlament die Streichung der beiden umstrittenen Regelungen, die sich auch in der Dienstleistungsrichtlinie finden, dort ausdrücklich ausgeschlossen haben.

Mit der Annahme des Berichts der Grünen-Abgeordneten Elisabeth Schroedter ist nach Auffassung der SPD-Parlamentarierin Karin Jöns "dem schleichenden Einzug von Sozialdumping" ein Riegel vorgeschoben worden. Dass effektive Kontrollen "bitter nötig" seien, beweise die Tatsache, dass bei jährlich rund 35.000 Kontrollen auf deutschen Baustellen etwa 20.000 Geldstrafen aufgrund von Verstößen gegen das Entsendegesetz verhängt würden. Der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Gruppe, Thomas Mann, sagte: "Wir werden es nicht zulassen, dass die Kommission am Parlament vorbei die Dienstleistungsrichtlinie aus den Angeln hebt".
 

Sogar die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) unterstützte den Anti-Dumping-Aufruf (sh. "Machtkampf um EU-Entsenderichtlinie", ftd.de, 26.10.06), weil die meisten Unternehmen des Baugewerbes und Baunebengewerbes sowie zukünftig wohl auch die Gebäudereiniger diesmal von der Lohndrückerei weniger profitieren als sie an Aufträgen durch den Zustrom ausländischer Dumping-Dienstleister einbüßen würden.

Rechtlich handelt es sich bei dem "Bericht" zu der "Mitteilung" um eine Art Gegendarstellung als Interpretationshilfe vor dem EuGH, der von den Neoliberalen gern zur Aktivierung ihrer geheimen Fallstricke zu Umverteilung nach oben in den Richtlinien angerufen wird. Dazu schreibt die Financial Times Deutschland (a.a.O):
 

"Mit unserem Bericht machen wir eine Art Gegendarstellung zu den Kommissionsleitlinien, und das ist ein Novum", sagt der CDU-Rechtsexperte Klaus-Heiner Lehne im Europaparlament. "Wir wehren uns damit gegen das undemokratische Vorgehen der Kommission und zeigen, was der europäische Gesetzgeber wirklich wollte."


Unterstützung erhält Spidla dagegen auch von der polnischen EU-Abgeordneten Małgorzata Handzlik. Sie betrifft es nicht, wenn das Dumping letztlich auch zu Lasten der polnischen und tschechischen Arbeitnehmer geht. Auch ihr geht es gerade um die Aushebelung der staatlichen Instrumente gegen das Lohn- und Sozialdumping. Dazu schreibt der Tagesspiegel vom 27.10.06:
 

Dagegen sprach sich die polnische EU-Abgeordnete Malgorzata Handzlik, die der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament angehört, gegen bürokratische Hürden in den Gastländern aus. Es erschwere den freien Wettbewerb, wenn von den entsandten Arbeitnehmern übermäßig viele Dokumente verlangt würden, sagte sie.
 

Letztendlich werden die Lobbyisten in Ost und West gerade dafür bezahlt, dass sie Einzelinteressen gegen das Gemeinwohl durchsetzen. Dies beweisen auch ständig die westlichen Umverteilungs-Profiteure durch immer weiteres Aufklappen der Einkommensschere und durch Verdummungs-Kampagnen zur Finanzierung ihrer Steuersenkungen auf Kosten der einkommensschwachen Konsumenten, also mit ihrer Arbeitsplatzvernichtung durch Umverteilung nach oben (sh. rossaepfel-theorie.de).




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Was sagen amerikanische Ökonomen zu Steuersenkungen für Bestverdiener und Meinungsmacher? Was bringt dagegen die Rossäpfeltheorie?
 

 
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